Mein Name war Judas
seiner Predigten spüren? Ich dachte immer, es gehe darum, seine Botschaft zu verstehen.«
Langsam drehte Jesus sich in meine Richtung. Er war schon wieder – oder immer noch – wütend. »Was hast du denn nicht verstanden, Judas?«
Ich sagte: »Die ganze Zeit predigst du Vergebung, Versöhnung und Frieden, und plötzlich sprichst du davon, dass du Zwietracht säen und Krieg führen willst.«
Unverhohlen blitzte die Wut aus seinen Augen. »Warum warst du in Nazareth?«
Das war keine Antwort auf meine Frage, und ich war so überrascht, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
»Wenn meine Mutter noch einmal wiederkommt«, sagte Jesus an uns alle gerichtet, »haltet sie von mir fern!«
Dann drehte er sich um und schlug den Uferweg zu Petrus’ Haus ein.
»Du hast ihn verärgert«, sagte Jakobus, und genau wie alle anderen sah er mich vorwurfsvoll an.
Warum war ich nie
zugegen, wenn er
Lahme gehend machte,
wenn er Tote
wieder zum
Leben erweckte
und ihre Familien
glücklich machte? In
meinem Traum
brennt das Feuer
am See. Dein Handschlag
ist Vergebung.
»Der Skeptiker ist
blind«, sagst du.
Ich sage: »Ja,
blind für nie
Geschehenes.« Du
wendest dich ab,
und ich erwache,
meiner Rolle gewiss,
als Verräter.
Kapitel 12
Der Ärger verflog, Jesus verzieh mir, und kurz darauf predigte er wieder Frieden und Versöhnung, setzte sich für die Armen, die Unterdrückten und Trauernden ein. Ich hatte einen Blick auf einen anderen Jesus erhascht, aber es sollte einige Zeit vergehen, ehe ich diesem anderen wiederbegegnete.
Neben uns auserwählten zwölf spielten zu dieser Zeit zwei Frauen eine Rolle in seinem Leben. Beide hießen Maria. Eine wurde Maria Magdalena genannt, weil ihre Familie aus Magdala, am Ufer des Sees Genezareth, stammte. Die andere Maria wohnte in Betanien, zusammen mit ihrer Schwester Martha und ihrem Bruder Lazarus. So verschieden die beiden waren, so sehr unterschieden sie sich von der ersten Maria in Jesu Leben, seiner Mutter, der Frau, die er nicht ausstehen konnte.
Maria Magdalena, der er wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, begegnete er zum ersten Mal, als ich noch verheiratet war und die Geburt meines ersten Kindes erwartete. Er hatte ein Talent, wildfremde Menschen auf Straßen und Plätzen, an Wasserquellen und Brunnen anzusprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Manchmal funktionierte das sogar bei Frauen, wenn sie zuhören konnten – ein Verhalten, das die konservativeren unter seinen Gefährten skandalös fanden. So hatte er auch Maria Magdalena kennengelernt. Sie war eine Frau, die sagte, was sie dachte, und sie war für seine Botschaft empfänglich. Später begegnete er ihr unter ganz anderen Umständen wieder – als Angeklagte.
Sie wurde nämlich beschuldigt, ihrem Mann untreu gewesen zu sein. Jesus kam auf dem Marktplatz einer kleinen Stadt dazu, wie ihr Fall öffentlich verhandelt wurde; sein Erscheinen selbst sei schon ein Wunder gewesen, sagte sie später. Das Ganze spielte sich vor der Synagoge ab, in der er am Vorabend über die Vergebung der Sünden gepredigt hatte. Maria Magdalena stand mit gesenktem Kopf da, rechts und links von ihr die Ankläger, ihr Mann und ihr Schwager, die sie an den Armen festhielten. Ihnen gegenüber standen drei Rabbis und besprachen, welche Strafe angemessen sei, als der älteste von ihnen den »Möchtegern-Propheten« sah, der am Vorabend behauptet hatte, ein armer Sünder sei Gott wichtiger als ein Gerechter, denn der Gerechte sei bereits errettet.
Es schien nicht einfach zu sein, zu einem Urteil zu gelangen. Es gab Zeugen für das Verbrechen, aber auch Zweifel an deren Aufrichtigkeit; möglicherweise hatte der Ehemann sie zu einer Falschaussage angestiftet, weil er die selbstbewusste Frau loswerden wollte. Jedenfalls kam der älteste Rabbi, der Wanderprediger gern aufs Glatteis führte, auf eine unterhaltsame Idee: Diesen hier würde er dazu bringen, entweder sich selbst oder dem Propheten Mose zu widersprechen.
»Jesus von Nazareth«, rief er. »Es gibt Zeugen für die Sünde dieser Frau. Nach den Gesetzen Moses sollen Ehebrecher gesteinigt werden. Muss das Gesetz auch in diesem Fall angewendet werden?«
Jesus stand am Rande des Platzes im Schatten von Bäumen. Statt zu antworten, bückte er sich und schrieb mit dem Finger etwas in den staubigen Boden. Die drei Rabbis kamen herbei und beugten sich vor, um zu lesen, was er geschrieben hatte, aber es schien sich um eine fremde Sprache zu handeln, eine,
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