Mein Name war Judas
»Du hast mich gerettet. Dir verdanke ich mein Leben.«
Jesus sah sie zweifelnd an. »Ich soll dich gerettet haben? Dieser Mann sagt, du seist eine Sünderin.«
»Du sagtest, Gott sorge für die Raben«, sagte sie. »Ich aber bin kein Rabe, deswegen musste ich für mich selbst sorgen. Ich verkaufe meinen Körper, um zu überleben.«
Jesus zögerte nur kurz. Ich konnte sehen, dass er Gefallen an ihr fand. Vielleicht fiel ihm auch ein, dass sie ihm schon bei der ersten Begegnung angenehm aufgefallen war. »Komm mit uns«, sagte er. »Dann zeige ich dir, wie die Raben ihr Leben fristen – ohne Sünde.«
Petrus, Jakobus und Andreas und selbst der junge Bartolomäus waren schockiert. Genau wie Simon, unser Gastgeber. Ohne auf die Frau Rücksicht zu nehmen, wiesen sie darauf hin, dass sowohl das Nardenöl als auch das Kästchen, in dem es sich befand, sehr teuer waren. Wovon hatte sie das bezahlt, wenn nicht vom Lohn für ihre Sünde? Wenn es sie nach Buße verlangte, warum hatte sie dieses Geld dann nicht den Armen gegeben? Wollte Jesus sich wirklich von einer Frau mit zweifelhaftem Ruf die Hände und Füße küssen und sie mit uns ziehen lassen?
Jesus schüttelte den Kopf. »Ich schätze diese Frau, wie ich euch schätze, meine Freunde.« Er hob seinen Becher und trank. »Und was die Armen betrifft, so wird es sie bis ans Ende aller Tage geben. Mich aber habt ihr nicht allezeit.« Dann lachte er.
Maria Magdalena wurde zu einer seiner treuesten Begleiterinnen. Zweifellos liebte er sie. Er vertraute ihr, vergab ihr ihre Sünden und erfreute sich ihres unerschrockenen Wesens. Gewiss hätte er sie in den Kreis seiner Jünger erhoben, wäre sie ein Mann gewesen. Wenn er in seinen düsteren Momenten unsere Verfehlungen anprangerte, ging es oft um unseren Mangel an Glauben. Er sagte, wir seien schwach, wankelmütig und unentschlossen, und er verglich uns mit Maria Magdalena, die niemals schwanke, ihn niemals verleugnen oder verraten werde.
Einmal beklagte sich Petrus darüber, er liebe sie mehr als uns, und es kursierten Gerüchte, vor allem unter jenen, die nicht unserem engsten Kreis angehörten, sie sei seine heimliche Geliebte. Das glaube ich aber nicht. Obwohl Jesus zu widersprüchlichem Verhalten neigte (man könnte sogar sagen, dass er darin Meister war), war er kein Heuchler. Hätte er Maria Magdalena in seinem Bett haben wollen, wäre sie genau darin gelandet, aber er war nicht wie andere Männer. Manchmal lag ich nachts wach und dachte an Judith, beweinte meinen Verlust und war mir der Tatsache bewusst, dass Maria Magdalenas geschmeidiger Körper ganz in der Nähe war und mir Trost spenden könnte. Doch obwohl sie mir den Gefallen vielleicht sogar getan hätte, wusste ich, dass es sie nicht nach meinem Körper verlangte, sondern nach dem von Jesus, den es nach ihrem aber nicht gelüstete.
Jesus liebte uns, seine Gefährten, manche mehr als andere, aber ich denke, für uns alle gilt, dass er in uns keine Individuen, sondern Repräsentanten der Menschheit sah. Und die Menschheit liebte er als Repräsentanten der Schöpfung Gottes. Es war eine ganz und gar unpersönliche Liebe, allumfassend und doch sehr allgemein. Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich es nicht mehr verstehen – und vielleicht habe ich es schon damals nicht verstanden.
Die andere Maria, die aus Betanien, war die Schwester von Martha und Lazarus. Alle drei liebten Jesus und er sie, aber sie unterschieden sich von uns anderen, die ihn auf seinen Wanderungen begleiteten. Alle drei waren sittenstrenge, ordnungsliebende Menschen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur eine oder einer von ihnen mit unserer Armut und Genügsamkeit, den unregelmäßigen Mahlzeiten und ebenso unregelmäßigen Andachten, dem Betteln und dem Leben auf der Straße zurechtgekommen wäre – ganz zu schweigen von den hautnahen Begegnungen mit den begeisterten Menschenmengen, denen wir uns mittlerweile genauso stellen mussten wie der Ablehnung, die man uns anfänglich entgegengebracht hatte. Nicht zu vergessen die Leprakranken, die Krüppel und Besessenen, die uns häufig bedrängten oder deren Familien uns bedrängten, in der Hoffnung auf Heilung. Sie stanken und hauchten uns ihren fauligen Atem ins Gesicht. Genauso entsetzt wären Lazarus und seine Schwestern über die Streitereien unter uns gewesen, über das Wetteifern um die Gunst unseres Anführers. All das war für uns Alltag. Wie andere Jesusanhänger, die zu den Wohlhabenderen gehörten, etwa
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