Mein Name war Judas
die sie nicht lesen konnten.
Einen Moment lang herrschte allgemeine Verwirrung und Verwunderung, dann wiederholte der älteste Rabbi seine Frage: »Nun denn, Prophet von Nazareth, hast du eine Antwort? Soll das Gesetz Moses hier angewendet werden?«
Jesus sah ihn an und fragte: »Du bist der ortsansässige Richter?«
Der Rabbi bejahte.
Jesus fragte: »Und welche Rolle spielt unser Herr in diesem Prozess?«
Der Rabbi wurde ungeduldig und hielt diese Frage für bedeutungslos, ja unverschämt, da die Antwort offensichtlich sei. »Es ist unsere Aufgabe, den Willen des Herrn auszulegen.«
Wieder bückte sich Jesus und schrieb mit dem Finger in den Staub, und obwohl die Rabbis ahnten, dass es wieder unleserlich sein würde, beugten sie sich darüber.
Immer noch gebückt, sagte Jesus: »Du musst das Urteil fällen. Doch wenn diese Frau gesteinigt werden soll, so ist es Gottes Wille, dass derjenige den ersten Stein werfe, der ohne Sünde ist.« Dann richtete er sich auf, blickte in die Menschenmenge, die sich mittlerweile angesammelt hatte, und sprach sie an, als hätten die Rabbis ihn dazu aufgefordert: »Derjenige unter euch, der ohne Sünde ist, trete vor!«
Jesus strahlte eine enorme Autorität aus, sein Blick war durchdringend. Es muss einer jener Momente gewesen sein, in denen man das Gefühl hatte, Gott selbst sähe einen mit Jesu Augen an. »Einer, der ohne Sünde ist«, wiederholte er so laut und deutlich, dass es von den Hauswänden widerhallte. Alle wandten den Blick von ihm ab, schauten in die Luft oder auf ihre Füße. Dann ging der Erste weg, dann zwei auf einmal, dann drei. Sie zuckten mit den Schultern und taten so, als interessiere sie die Sache nicht mehr, als gehe sie das Ganze ohnehin nichts an oder als hätten sie etwas Wichtigeres zu tun. Bald waren nur noch die Rabbis, die inzwischen über die Sinnhaftigkeit von Jesu Verdikt debattierten, und die beiden Kläger da, die nun nicht mehr so selbstgewiss wirkten und Maria Magdalenas Arme losgelassen hatten.
»Lasst die Frau mit mir ziehen«, sagte Jesus. »Dann seid ihr sie los, und sie wird errettet.«
Er führte sie mit sich fort, und die anderen blieben schweigend und verunsichert zurück. Die jüngeren Rabbis zürnten dem älteren, weil er durch die Einbeziehung des Emporkömmlings aus Nazareth den Prozess aus der Hand gegeben hatte. Auch der ältere bedauerte es inzwischen, aber er versuchte das Gesicht zu wahren, indem er den Klägern versicherte, auf diese Weise sei ein ausgezeichnetes Ergebnis erzielt worden.
Jesus und Maria Magdalena verließen die Stadt und wanderten die ganze Nacht durch, weil sie fürchteten, die anderen könnten es sich noch einmal überlegen. Spät am nächsten Tag kamen sie müde, hungrig und staubig in ein Dorf, in dem etliche Jesusanhänger wohnten. Einer von ihnen führte eine Herberge, und Jesus bat ihn, Maria Magdalena dort aufzunehmen. Der Mann war einverstanden und gab ihnen zu essen und zu trinken.
Nach dem Essen verabschiedete sich Jesus. »Du bist frei«, sagte er zu Maria Magdalena.
»Ich bin eine geschiedene Frau«, erwiderte sie. »Wovon soll ich nun leben?«
Jesus versicherte ihr, Gott werde für sie sorgen, brachte das Gleichnis von den Raben, küsste sie und ging.
Zwei Jahre darauf, inzwischen war ich ein Jünger Jesu, kehrten wir zu sechst in diese Gegend zurück. Ein Mann namens Simon lud uns zum Essen ein, weil er überzeugt war, Jesus habe ihn bei einem früheren Besuch durch Handauflegen und seinen Segen vom Aussatz geheilt. Während die Dienerschaft noch das Mahl zubereitete, öffnete sich eine Tür, und eine Frau, die Jesus als Maria Magdalena wiedererkannte, kam mit einem Alabasterkästchen herein. Simon stand auf und entschuldigte sich bei Jesus. »Es tut mir leid, das hier ist keine tugendsame Frau, aber sie besteht darauf, dich zu sehen. Sie will dir danken.«
Zu Maria Magdalena sagte er: »Bitte sag, was du zu sagen hast, und dann geh!«
Sie kniete vor Jesus nieder und bat um eine Schüssel Wasser. Als sie gebracht wurde, wusch Maria Magdalena Jesus die Füße, trocknete sie mit ihren langen Haaren ab und küsste sie. Dann öffnete sie das weiße Kästchen, das mit edlen Schnitzereien in Form von Palmen verziert war. Sofort war der ganze Raum vom Duft würzigen Nardenöls erfüllt. Jesu Füße waren rissig und wund vom Wandern. Maria Magdalena massierte sie mit dem Öl.
Als sie fertig war, stand sie auf, nahm Jesu Hände und küsste sie. »Das war ich dir schuldig«, sagte sie.
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