Mein Name war Judas
erlischt.
Kapitel 20
Die Geschichten, die Ptolemäus und seine Freunde vom »letzten Abendmahl« und allem, was danach kam, erzählen, sind äußerst genau und höchst seltsam – teils sind sie wahr, teils frei erfunden. Jesus habe vorausgesagt, dass ich, Judas Iskariot, ihn verraten und Petrus, der Fels, auf dem seine Kirche dereinst erbaut werden sollte, ihn drei Mal verleugnen werde, noch ehe der Hahn gekräht habe. Auch seinen eigenen Tod habe er vorausgesagt. Ebenso wie seine Auferstehung am dritten Tage. Und so sei es dann ja auch gekommen. Folglich seien auch seine anderen Prophezeiungen wahr geworden, Judas’ Verrat und Petrus’ Verleugnung. Die innere Logik dieser Geschichten bestand darin, dass Jesus wusste, was kommen würde, und dass es dann so kam, bewies seine Göttlichkeit.
Obwohl ich damals dabei war, kann ich mich nur an wenig von dem erinnern, was hier kolportiert wurde. Von Verleugnung und Verrat etwa war damals nicht die Rede gewesen – außer in einem allgemeinen Sinne und bezogen auf unsere Glaubensschwäche. Natürlich nahm Ptolemäus (damals Bartolomäus) für sich in Anspruch, die damaligen Ereignisse korrekt wiederzugeben, denn als einer der zwölf war er ja dabei gewesen. Er hatte mit mir am selben Tisch gesessen, hatte dasselbe gehört und gesehen wie ich. Sind seine Erinnerungen das Resultat seines Glaubens? Oder hat mich mein Unglaube für das wahre Geschehen blind gemacht? Es läuft auf die simple Frage hinaus: Irrt er, oder irre ich? Nur Gott kann diese Frage beantworten, wenn es Ihn gibt. Aber wenn das der Fall ist, so hat Er vierzig Jahre lang geschwiegen. Seit Jesus, wie er uns versicherte, den feurigen Wagen, den göttlichen Zorn, das Trennen der Auserwählten von den Unwürdigen und das Ende aller Zeiten sah. »Wo bist du, Jesus?«, frage ich manchmal in den Nachthimmel. Das soll natürlich nur ein Scherz sein, kein inniges Gebet, nicht einmal eine ernst gemeinte Frage. Der Mann ist tot, und falls ich in der Dunkelheit je eine Antwort erhielte, würde ich vermutlich eher vor Überraschung als vor Schreck sterben.
Heute Morgen kamen wieder Nachrichten aus Jerusalem, und es waren keine besseren als die vorhergehenden. Die Römer haben die Belagerung beendet und die Stadt niedergebrannt. Nur noch Ruinen sind von ihr übrig. Nur wenige Einwohner haben den Angriff überlebt. Als Erste berichteten Kameltreiber davon, später hat eine jüdische Familie aus Betfage alles bestätigt. Danach haben Einwohner, die ihre Stadt verteidigen wollten, römisches Kriegsgerät in der Nähe des Damaskustors in Brand gesteckt. Die Flammen erfassten die hölzernen Verteidigungsanlagen, und bald griff das Feuer auf die ganze Stadt über. Die Brunnen waren fast ausgetrocknet, und auch sonst fand sich nirgends Löschwasser. Das Feuer ließ eine Stadtmauer einstürzen, sodass die Römer eindringen konnten und von ihrem Lager am Skopusberg aus die Stadt stürmten und alles töteten und vernichteten, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Einwohner verteidigten sich, so gut sie konnten, doch ausgehungert, krank und verzweifelt, wie sie waren, überwältigten die Römer sie schnell. Der Kampf machte vor niemandem halt, ob Mann, Frau oder Kind. Man sagte, selbst Titus, der römische General und Sohn des neuen Kaisers, habe geweint, als er sah, was seine Truppen angerichtet hatten. Auch Ptolemäus und ich weinten, als wir das hörten. In diesem Moment waren wir wieder Brüder, so wie damals. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, wer ich bin, aber vor Kummer konnte ich nicht sprechen, und dann war der Moment vorbei.
Was soll nur aus uns werden?, frage ich mich und merke, dass ich wie ein Jude denke und einen Augenblick vergesse, dass ich hier, in der griechischen Gemeinde, eine neue Identität angenommen habe. Ich fühle mich wie ein Überlebender, der mit einer kleinen Schar Schicksalsgenossen wieder vertrieben ist und auf der Suche nach einer neuen Heimat durch die Welt wandert. Und ich bin dankbar, dass es nicht so ist. Wem ich danke? Meiner Skepsis, meinem Unglauben, meiner Beobachtungsgabe und meiner Aufgeschlossenheit. Auch meiner verstorbenen Frau Thea, meinen griechischen Kindern und Kindeskindern. Ich danke dem Schutz, den meine neue Sprache und mein neuer Kulturkreis mir bieten. Doch ich weine um Jerusalem und seine Einwohner und hoffe, dass sie in den Provinzen ein neues Leben finden, sich erholen und ihnen ein Neuanfang glückt.
Es war Theseus, der mir die Nachricht überbrachte. Er war unter
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