Mein Name war Judas
denen, die den von Staub gezeichneten Kameltreibern unten am kleinen Marktplatz etwas zu trinken und zu essen brachten und dabei ihren Bericht entgegennahmen. Als Theseus mein Haus wieder verlassen hatte, ging ich zum Hafen. Ich suchte Autolykus in seiner Werkstatt auf und erzählte ihm, was ich gerade gehört hatte. Er sah mich aufmerksam an und versuchte offenbar, meine Gefühle zu verstehen.
»Wenigstens ist deine eigene Heimat davon nicht betroffen«, sagte er dann.
Er hatte recht. Galiäa würde den Zorn der Römer nicht im selben Maße zu spüren bekommen. Dennoch hatte Jerusalem eine besondere Bedeutung für mich. Ich staunte über mich selbst, als ich mich sagen hörte: »Du weißt ja, dass mein Name Judas war, bevor ich hierherzog.«
Er sah mich fragend an. Überrascht war er nicht, denn meine Kinder wussten, dass meine Eltern mir den Namen Judas gegeben hatten, dennoch war meine Bemerkung ihm rätselhaft, und er fragte: »Ist Judas denn nicht lediglich die jüdische Form von Idas?«
Damit hatte er recht, aber das war nicht die ganze Wahrheit, denn »Judas« war in den Schilderungen der Evangelisten mittlerweile mehr als ein Name: Er war gleichbedeutend mit »Verrat«. Dieser Wortwechsel zeigte, dass mein Sohn weit weg von alledem und durch und durch Grieche war, während ich spürte, dass ich im Grunde immer noch Jude war.
Ich sagte: »Ich will dich nicht länger von der Arbeit abhalten.« Unsicher legte er mir einen Arm um die Schulter. Es war ein Versuch, mich zu trösten, aber er wusste nicht recht, wie er es anstellen sollte.
Ich wanderte am Ufer entlang, bis ich zu einer Stelle kam, die dicht mit Tamarisken und Oleander bewachsen ist. Dort liegt mein kleines Boot. Ich zog es aus dem Gebüsch, schob es ins Wasser und stieg ein. Mit kurzen Schlägen ruderte ich über das ruhige, klare Meer und beobachtete einen Schwarm Sardinen, der in dichter Formation dahinschwamm, mal nach links, mal nach rechts, aber immer wie ein einziges Lebewesen, das aus aberhundert Gliedern bestand.
Ganz plötzlich wurden aus dem einen Lebewesen viele, die in Panik auseinanderstoben, jedes in eine andere Richtung. Den großen Fisch, der es auf sie abgesehen hatte, konnte ich nicht sehen, nur seinen Schatten. Das Wasser hatte sich eingetrübt. Die Sardinen schossen an die Wasseroberfläche und versuchten, sich in ein Element zu retten, das ihnen wesensfremd ist – wie Menschen, die sich auf der Flucht vor Gefangennahme oder dem Tod ins Meer stürzen.
Dann war plötzlich alles wieder ruhig. Die Wellen rund um mein Boot glätteten sich, und das Wasser wurde wieder klar. Der Angreifer hatte seinen Hunger gestillt und sich zurückgezogen, die kleinen Fische schlossen sich wieder zu ihrer Formation zusammen, einer silbernen, wogenden Unterwasserwolke.
Eine Weile saß ich gedankenverloren da und spürte meinen Gefühlen und den Elementen nach, der Gegenwart und der Vergangenheit. Dann tauchte plötzlich dieser Text auf. Irgendwo in meinem Hirn muss er all die Jahre gesteckt haben, dieser Psalm, der unseren sanften Lehrer wegen seiner »gnadenlosen Härte«, wie er sagte, arg bekümmerte, seinen Lieblingsschüler aber freudig erregte:
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.
Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.
Denn die uns gefangen hielten, hießen uns dort singen
und in unserm Heulen fröhlich sein: »Singet uns ein Lied von Zion!«
Wie könnten wir des HERRN Lied singen in einem fremden Lande?
Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte.
Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke,
wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.
HERR , vergib den Söhnen Edom nicht, was sie sagten an dem Tage Jerusalems: »Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!«
Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan!
Wohl dem, der deine Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!
Es sind harte Worte, und ich spürte wieder ihre Kraft, obwohl ich – anders als einst – nicht glauben konnte, dass das Unrecht, das dem Volke Israel oder jedem anderen angetan wird, je vergolten werden kann, indem Gewalt gegen Gewalt gesetzt wird.
Doch Jerusalem wird wiederauferstehen. Es gibt Überlebende. Unser Volk ist leidensfähig. Was mich jedoch betrifft, so bin ich Idas von Sidon, ein unjüdischer Jude, der Stammvater einer griechischen Familie und daher – wenn auch nicht durch Geburt und
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