Mein Name war Judas
Erziehung, so doch durch eigene Wahl – Grieche.
Nach dem Essen führte Jesus uns aus der Taverne. Obwohl wir alle dort Betten hatten, folgten wir ihm fraglos, es war noch nicht spät. Er ging mit uns ins Kidrontal, über den Fluss und hinauf zum Garten Gethsemane. Er hatte immer von diesem Garten gesprochen, wenn wir auf dem Weg in die Stadt daran vorbeikamen. Jetzt wollte er dort beten. Es war ein schöner, klarer Abend, aber die Stimmung war gedrückt. Wir waren besorgt und wagten keine Fragen zu stellen, als wir Jesus in Zweier- oder Dreierreihen folgten.
In einem Olivenhain blieb Jesus stehen und sagte, wir sollten uns ausruhen. Wir ließen uns nieder, wo wir zwischen den Steinen ein Fleckchen Gras entdeckten, und betteten unsere Köpfe auf flache, glatte Steine. Jesus aber ging weiter. Nach einigen Minuten folgte ich ihm. Ich fand ihn unter einem Baum, an dessen Stamm er sich lehnte, die Hände um die Zweige über seinem Kopf gelegt. Er betete halblaut, seine Stimme klang heiser und verzweifelt. Unverkennbar hatte er große Angst.
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, doch er schüttelte sie ab. Er wollte nicht, dass jemand ihn in dieser Gemütsverfassung sah. Also richtete er sich auf und riss sich zusammen. Als ich sprechen wollte, legte er mir eine Hand auf den Mund und sagte: »Sag nichts … es sei denn, du hast etwas zu sagen, das ich aus deinem Munde noch nicht gehört habe.«
Ich schwieg, aber mir war, als fände eine Gedankenübertragung zwischen uns statt. Stumm teilte ich ihm zum wiederholten Male mit, dass er drauf und dran sei, Selbstmord zu begehen, während er mir zum wiederholten Male stumm mitteilte, das sei der Wille des Vaters.
Dass er sich nicht umstimmen lassen und in Sicherheit bringen wollte, fand ich rechthaberisch und eigensinnig. Vielleicht wollte er aber einfach loyal sein. Loyal gegenüber seinen Anhängern, aber mehr noch gegenüber sich selbst, gegenüber Gott und der Botschaft, die er fast drei Jahre lang gepredigt hatte. Er hatte die Autorität der Tempelherren infrage gestellt und seine eigene dagegengesetzt. Wenn er damit ernst genommen werden wollte, durfte er nicht einfach davonlaufen.
Er atmete tief durch und fasste mich an der Schulter. »Ich möchte es schnell hinter mich bringen. Es vollbringen. Also lass uns den nächsten Schritt machen.«
Ich trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, dann folgte ich ihm zum Rastplatz der anderen. Er versammelte uns um sich und hielt eine kurze Ansprache, in der wieder die Rede davon war, dass er uns bald verlassen werde. Es war seine Abschiedsrede. Dann forderte er uns auf, das Gebet mit ihm zu sprechen, das er uns gelehrt hatte und das wir mittlerweile als unser ureigenstes betrachteten. Als wir es dieses Mal sprachen, lag mehr Inbrunst darin als je zuvor.
Danach bat er Petrus, Jakobus und Johannes, ihn in einen anderen Teil des Gartens zu begleiten und dort mit ihm zu beten, während wir anderen Wache halten sollten. Dass ich nicht mitgehen durfte, empfand ich als Zurückweisung, aber er hatte natürlich recht. Ich hätte nur gebetet, um ihm einen Gefallen zu tun, nicht um Zwiesprache mit einem Gott zu halten, der mir noch nie sein Ohr geliehen hatte und dessen Existenz ich mir bereits zu jener Zeit anzuzweifeln erlaubte.
Ich glaube, an diesem Abend kehrte keiner von uns zu der Taverne zurück, obwohl Bartolomäus eine Zeit lang vermisst wurde. Als er zu uns zurückkehrte, hatte er seinen jungen Juweliersfreund dabei. Wir legten uns unter die Bäume und schliefen bald ein, wenn auch unruhig. Als ich von Stimmen erwachte, war Jesus mit den drei Auserwählten immer noch ins Gebet vertieft. Dann sah ich, wie Menschen mit Laternen unten im Tal den Fluss überquerten. Ich stand auf und ging an eine Stelle, von wo ich sie beobachten konnte. Sie sprachen laut miteinander, während sie auf dem Zickzackpfad zwischen den Bäumen den Hang erklommen. Der »Gesuchte« sei mit seinen Anhängern in einer Taverne gesehen worden und dann in Richtung Gethsemane aufgebrochen.
Ich eilte zurück und fand Jesus unter seinen Jüngern. Er sprach zu ihnen, aber ich unterbrach ihn und packte ihn an den Armen. Diese Geste ist vermutlich gemeint, wenn es heißt, ich habe ihn geküsst, um damit zu verraten, welcher von uns der Prophet aus Nazareth war. »Sie kommen«, sagte ich zu ihm. »Wenn wir uns zwischen den Bäumen verstecken …«
Er schüttelte den Kopf, löste sich aber nicht aus meinem Griff. »Nein, Judas. Ich laufe nicht weg.«
Kurz
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