Mein neues Leben als Mensch (German Edition)
Beckerfaust und rief: «Ja!»
Ich verstand dann, dass ihr diese Spange als Symbol für das Fortkommen innerhalb der Adoleszenz höchst willkommen war. Ähnlich wie der erste Pickel, den sie im Mai freudig begrüßt hatte. Wer einen gewissen Zahnschiefstand oder Hautunreinheiten aufweist, der hat es im Leben bereits zu etwas gebracht, so in etwa war ihr Jubel zu verstehen. Ich fand das rührend und erinnerte mich an meine erste Nassrasur mit vierzehn Jahren. Zwar hatte ich damals noch keinen Bartwuchs, hoffte aber, dass dieser einsetzte, sobald ich mich rasierte.
Als die Spange dann in unser Haus kam, musste Carla sie vorführen. Sie setzte sie mühsam ein, und das Ding polsterte subkutan ihren Mundbereich auf. Um den Kiefer herum sah sie ein bisschen aus wie Oliver Kahn. Ich musste lachen. Sie sagte: «Hörauffoblöfukichn.» Ich musste noch mehr lachen, tut mir leid. Darauf entfernte sie das gute Stück und rief sabbernd, dass es kein Vergnügen sei, eine Prothese tragen zu müssen, und dass sie Unterstützung von ihrem eigenen Vater erwarten könne. Und damit hatte sie recht, auch wenn eine Zahnspange keine Prothese ist.
Carlas Zahnspange hat inzwischen unser Leben verändert, dauernd geht es um diesen teuren Dentalverhau. Ich habe meine Tochter im Verdacht, dass sie das Teil absichtlich verbiegt, damit es wehtut und sie es nicht tragen muss. Sie bestreitet dies, aber die anfängliche Begeisterung ist schnell einer nüchternen Pragmatik gewichen. Es gibt überhaupt nur noch einen Bewohner unseres Hauses, der wirklich auf die Spange steht: unseren Hund. Hunde lieben Zahnspangen, wobei sie diese nicht einsetzen, um ihr Gebiss zu regulieren, sondern sie umstandslos zerbeißen, worauf eine neue Zahnspange angefertigt werden muss. Wahrscheinlich ist der Hund das Wappentier des kieferorthopädischen Berufsverbandes.
Dessen Mitglieder haben viel zu tun. Vor einiger Zeit fand eine größere Übernachtungsparty bei uns zu Hause statt. Gegen 22 : 30 Uhr legten gleich fünf von sieben anwesenden Mädchen synchron ihr Geschirr an, um danach noch zwei Stunden in einer feuchten Geheimsprache miteinander zu konferieren. Immerhin hatten alle ihre Spange dabei, was sonst nie der Fall ist. Normalerweise klingelt es gegen 23 : 30 Uhr, und dann wird eine absichtlich vergessene Regulierungsapparatur in einer «Twilight»-Dose angeliefert.
Letzten Freitag war ich jedenfalls mal wieder unterwegs. Ich parkte, nahm die Dose vom Beifahrersitz und klingelte. Moritz’ Vater öffnete die Tür, ich streckte ihm den Frachtbehälter entgegen. Er nahm ihn, nickte wissend, ich nickte zurück, dann drehte ich mich um und ging wieder. Väter von gleichaltrigen Pubertieren verstehen sich vollkommen ohne Worte. Bevor sich die Tür schloss, hörte ich, wie meine Tochter im Hintergrund rief: «Boah, mein Vater ist so krass uncool.» Uncool, ja, aber mit geraden Zähnen.
Es ist eine fremde verpixelte Welt
Gehe heute Morgen brav mit dem Hund spazieren und stelle nach wenigen Metern fest, dass sämtliche Häuser in unserer Nachbarschaft über Nacht verpixelt wurden. Alle: weg! Nur noch ein milchiger Schein ist zu sehen, dahinter lassen sich Fassaden und nackte Nachbarinnen nur mehr erahnen. Sie leben jetzt hinter satiniertem Glas, und zwar alle. Jemand muss bei Google Street View den Antrag gestellt haben, unser komplettes Dorf zu verpixeln, aber wer? Vielleicht Gott in seiner milden Güte, weil er nicht wollte, dass Neid und Missgunst bei morgendlichen Spaziergängern aufkommen, wo nackte Hausfrauenleiber lasziv in einsehbaren Küchenzeilen sich räkeln.
Oder man hat sich zusammengetan, im Rathaus beraten und dann in einer konzertierten Protestaktion Anträge gestellt. Mir hat niemand etwas davon gesagt. Und da kommt eine finstere Ahnung auf. Ich drehe mich um, sehe zu unserem Häuslein herüber und Tatsache: weg! Völlig verpixelt. Meine Frau fragt mich, was eigentlich mit mir los sei, ich sage: «Alles verpixelt, alles.» Darauf sie: «Das ist doch bloß Nebel.»
Nebel, so doziert sie, komme am Ende des Jahres schon einmal vor, besonders morgens, und das sei ja wohl hinnehmbar. Hinnehmbar. Das ist so ein richtiges Stuttgart-21-Wort. Hinnehmbar beschreibt die in der bürgerlichen Gesellschaft schmaler werdende Grenze zwischen scheißegal und unerhört. Aktuelles Sportstudio um 23 Uhr? Hinnehmbar. Benehmen von Finanzminister Schäuble gegenüber seinem Pressesprecher? Absolut nicht hinnehmbar! Es ist schon erstaunlich, dass viele
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