Mein neues Leben als Mensch (German Edition)
abgeholt, direkt in der Fabrik. Das hat ihm gefallen. Da gab es ein Restaurant, in dem er so viel Eis essen durfte, wie er wollte, und einen Fahrsimulator, auf dem ihm anschließend übel wurde. Wir nahmen dann an einer Werksbesichtigung teil und sahen uns das Museum an. Es wimmelte nur so von nervösen Vätern und deren Söhnen. Viele waren an diesem Tag Hunderte von Kilometern gereist, hatten Nummernschilder und Abholscheine dabei und hechelten der Überreichung ihres neuen Familienautos entgegen. Nicht wenige bauen übrigens anschließend zwischen der Fabrik und der nahen Autobahn den ersten Unfall, weil Vati sich nicht aufs Fahren konzentriert, sondern an irgendwelchen Knöpfchen herumfummelt. Nach dem Werksrundgang präsentierte ein aufgeregter junger Mann das neue Kfz, als handele es sich um die Bundeslade. Es ist albern und schlimm, aber ich fühlte mich dadurch zum ersten Mal im Leben, als besäße ich etwas. Und mein Sohn fühlte sich offenbar wie jemand, der das bald erben wird.
Bis dahin war das Kostbarste, was ich zu vererben gehabt hätte, meine Plattensammlung. Ich habe sie meiner Tochter angeboten, aber sie interessiert sich nicht dafür. Schallplatten sind für sie wie Zinnsoldaten oder Briefmarken. Musik gleicht in ihren Augen Leitungswasser und hat keinen materiellen Wert. Das sehen viele Menschen heutzutage so, und sie bezahlen deswegen nichts mehr für die Musik, die sie hören, es sei denn, sie besuchen ein Konzert.
Das haben Sara und ich neulich auch mal wieder gemacht. Wir sahen uns Lang Lang an. Das war wirklich erstaunlich. Er spielte wie ein tasmanischer Teufel, sah gar nicht auf die Tasten, schloss zwischendurch die Augen und tobte konzentriert, aber ekstatisch über den Flügel. Angeblich hat Lang Lang als Zweijähriger einmal im chinesischen Fernsehen eine Episode von «Tom und Jerry» gesehen, in welcher Kater Tom Klavier spielte, und dies hat in ihm den Wunsch geweckt, dieses Instrument zu erlernen. Das ist interessant. Wenn mein Sohn «Tom und Jerry» sieht, inspiriert es ihn allenfalls dazu, als Messerwerfer aufzutreten.
Als wir durch die Autofabrik geführt wurden, habe ich an Lang Lang denken müssen, denn ich habe dort den Lang Lang der Automontage gesehen. Es handelte sich dabei um einen jungen Mann, der eine virtuose Performance mit einem Akkuschrauber bot. Die Autos schwebten über die Montagestrecke, und der Bursche schwang sich in ein unfertiges, noch sitzloses Exemplar, um dann in Windeseile zahllose Schrauben in unzugänglichen Bereichen der Mittelkonsole unterzubringen. Er griff ohne hinzusehen die richtigen Schrauben und versenkte sie innerhalb von Zehntelsekunden. Sein Akkuschrauber wirkte wie eine Verlängerung seines Zeigefingers. Er hatte nur ungefähr eine Minute Zeit, um ins Auto zu gelangen, alle Schrauben einzudrehen und wieder auszusteigen, wenn er dem nachfolgenden Kollegen nicht in die Quere kommen wollte. Das ganze Montageband folgte einer fast magisch anmutenden Choreographie.
Ich bewunderte den Werkzeugartisten nicht weniger als den chinesischen Pianisten. Man muss wohl konstatieren, dass Musik als käufliches Gut heute weniger wert ist als ein Auto, aber der Pianist wird dennoch weitaus höher geschätzt als jemand, der im Auto die Schrauben eindreht. Komische Welt.
Der Wert von Nicks zukünftigem Erbe wurde noch am selben Abend gemindert. Nach genau einhundertneunundzwanzig absolvierten Kilometern fuhr ich in die Garage und kratzte mit dem rechten Radkasten am Garagentor vorbei. Tut mir leid, Sohn.
Der Untergang des Abendlandes oder wenigstens der Modelbranche
Schwere Irritation bei unserer Tochter. «Ich wünsche mir ein Einzelkind», hat sie mich vorhin zu meiner Frau sagen hören – und war verstimmt. Die Elfjährigen sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Sofort beleidigt. Wahrscheinlich müssen wir zu einem Psychologen mit ihr, weil sie ein Trauma davongetragen hat und sich jetzt abgelehnt fühlt. Es wird damit enden, dass sie mir aus Rache kein Spritzgebäck mitbringt, wenn sie mich später mal im Altenstift besucht.
Dabei war die ganze Sache ein Missverständnis. Sie hat sich verhört, ich wünsche mir nämlich keineswegs ein Einzelkind, sondern ein Einzelkinn. Und zwar weil ich in der letzten Zeit ein Doppelkinn hatte. Nicht immer, aber beim Nach-unten-Gucken. Bin auch nur ein Mensch. Jedenfalls reagierte Carla zunächst verstört.
Genau wie ich, als ich vor vielen Jahren einmal zur Beute meines schwachen Hörsinns wurde. Ich hatte eine
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