Mein Offizier und Gentleman
diesem Augenblick wer weiß wo sein, einem grausamen Verführer ausgeliefert, vielleicht gar geschändet, denn ohne Zwang hätte sie nie und nimmer in eine Ehe mit einem der drei eingewilligt. Sie wäre zugrunde gerichtet! Ihr grauste ob dieser Vorstellung. Plötzlich in Tränen aufgelöst, warf sie sich auf ihr Bett und verkroch sich schutzsuchend unter der Decke.
Morgen früh würde sie Drew danken, wie es sich gehörte, und natürlich auch Lord Harcourt, wenn sie ihn das nächste Mal traf. Im Moment jedoch empfand sie eine solche Peinlichkeit, dass sie hoffte, er werde eine Weile nicht vorsprechen.
Im grauen Licht des frühen Morgens betrachtete Jack sein Gegenüber. Toby Lawrences Teint war kränklich blass, der junge Mann wirkte ängstlich, und wäre es nicht um eine so schwerwiegende Verfehlung gegangen, hätte Jack ihn mit einer Verwarnung laufen lassen, so aber fand er, der grüne Junge hätte eine Lektion verdient.
Mittlerweile hatten die Sekundanten die Waffen inspiziert. Drew forderte die Opponenten auf, sich Rücken an Rücken aufzustellen, und erklärte: „Jeder geht zehn Schritt; auf mein Kommando drehen sich beide um und geben einen Schuss ab, nur einen …“
Lawrence trug einen dunklen, bis zum Hals zugeknöpften Rock. Dass er so ein weniger gutes Ziel abgeben würde, hatte ihm bestimmt sein Onkel Collingwood erklärt, der in seiner Jugend wohl Zeuge einer ganzen Anzahl von Duellen gewesen und möglicherweise sogar selbst ein recht brauchbarer Schütze war. Selbstverständlich würde er sich kaum mit Jack messen können, der seine Schießkünste im Feuerhagel des Feindes gelernt hatte. Hier würde er sie allerdings nicht beweisen.
Jack hatte seinen Mantel abgelegt und stand in Hemd und Weste da. Deutlich trat der Unterschied in der Haltung der beiden Männer zutage: Jack war ruhig und gelassen, wohingegen der junge Mann eher einem verschreckten Kaninchen glich.
„ … neun … zehn“, sagte Drew, und Lawrence fl og herum und schoss, ohne auf das Kommando zu warten. Der Schuss streifte Jack am Arm und zerfetzte das weiße Leinen des Hemdärmels, auf dem sofort ein rotes Rinnsal erschien. Ohne auch nur zu zucken, hob Jack die Pistole und zielte, den Finger am Abzug, sorgfältig auf Lawrences Brust. Der junge Mann, der in Jacks Augen sein Todesurteil zu sehen glaubte, schrie angsterfüllt auf und sprudelte hervor: „Ich wollte ihr doch nichts antun. Ich schwöre es. Es war nicht meine Idee. Ich liebe sie, ich wollte sie heiraten, aber sie mag mich nicht.“
„Du wirst sie nie wieder anrühren!“, sagte Jack und schoss in die Luft. Mit einem unterdrückten Schrei sank Lawrence zitternd auf die Knie, Tränen rannen ihm über die Wangen. Unbarmherzig schritt Jack auf ihn zu, beugte sich über ihn und sagte kalt und zornig: „Lass es dir eine Lehre sein! Hör besser nicht auf üble Ratschläge! Ich lasse dich am Leben – für jetzt, aber sollte ich je erfahren, dass Miss Horne etwas zugestoßen ist, werde ich dich töten.“
Zu beschämt, um Jack ins Gesicht zu sehen, schüttelte Lawrence den Kopf. „Nicht durch mich, das schwöre ich – ich liebe sie. Mein Onkel hatte die Idee, und dann kam Markham und stachelte mich an.“
Was Lawrence, als er aufblickte, in Jacks Miene las, ließ ihm einen Schauer über den Rücken rinnen. Er beschloss, London noch am gleichen Tag zu verlassen und sich für längere Zeit aufs Land zurückzuziehen.
Drew kam heran. „Komm, zeig mir die Wunde, Jack. Dieser Schwachkopf schoss zu früh, eigentlich müsste man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.“
„Lass nur, es ist nur ein Kratzer“, sagte Jack. „Ich denke, das Bürschchen ist bestraft genug. Drew, ich will den Mann, der Lawrence in diese Geschichte hineinschwatzte – und der wird es bereuen, wenn ich erst mit ihm fertig bin.“
5. KAPITEL
„Nun, dir geht es wieder besser?“, fragte Drew, als er Lucy am nächsten Vormittag im Haus traf, denn sie wirkte durchaus frisch und munter.
„Ja, viel besser“, entgegnete sie lächelnd. „Es tut mir leid, dass ich gestern Nacht ein wenig harsch war. Inzwischen kann ich würdigen, was ihr für mich gestern getan habt, aber …“ Sie sog tief den Atem ein und schüttelte den Kopf.
„Ich verstehe schon, Lucy, du musst dich nicht entschuldigen. Hoffentlich hat dir diese Geschichte nicht den Spaß an London verdorben. Oder möchtest du lieber heim? Du brauchst es nur zu sagen.“
„Nein, ich werde nicht davonlaufen.“ Stolz hob sie den Kopf.
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