Mein Offizier und Gentleman
ziemlich verblüfft. Er wanderte häu fi g am späten Abend noch umher, vor allem, wenn er über etwas nachgrübelte. Vielleicht war er ein wenig hart mit ihr gewesen, aber es war wirklich unklug von ihr, zu dieser Stunde nur unvollständig bekleidet durchs Haus zu gehen, vor allem, da auch männliche Gäste auf Marlbeck weilten, von denen der eine oder andere womöglich dreist genug war, sich einen verstohlenen Kuss zu rauben – oder gar mehr!
So wenig es ihr bewusst sein mochte, Lucy war ein entzückendes junges Mädchen, und der Anblick ihrer hübschen schlanken Beine, als sie von dem Baum kletterte, war verführerisch. Für ihn war sie ein zauberhaftes Kind, vielleicht ein wenig scheu noch und ganz unschuldsvoll – wie seine Schwester einst! Als er an Amelia dachte, fl og ein Schatten über sein Gesicht, denn Amelia in ihrer Unschuld war missbraucht worden und lebte heute in Unglück und Verzweifelung. Rasch verdrängte er den Gedanken. Es hatte keinen Sinn, über die Vergangenheit zu grübeln, außerdem beschäftigten ihn zurzeit andere Dinge.
Jack besaß viele Freunde und Bekannte, doch niemand hatte ihm je so nahegestanden wie David Middleton. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten Abenteuer und Träume geteilt, waren mehr Brüder als Freunde gewesen. Davids Tod hatte ihn schwer getroffen und eine verheerende Wirkung auf ihn gehabt.
Nach der Ankunft dieses mysteriösen Briefes hatte er jedoch Nachforschungen angestellt und glaubte mittlerweile, dass David einem Pack von Halsabschneidern und professionellen Glücksspielern in die Hände geraten war. David hätte sich niemals um sein Vermögen bringen lassen, ohne sich zur Wehr zu setzen – ein Grund für die Schurken, ihn zu ermorden und seine Leiche im Straßengraben verschwinden zu lassen. Ob Collingwood etwas damit zu tun hatte, blieb noch zu beweisen, obwohl feststand, dass er zu den Leuten gehörte, mit denen David in den Wochen vor seinem Tod am Spieltisch gesessen hatte. Of fi ziell hieß es auf jeden Fall, Straßenräuber hätten David aufgelauert, ihn ermordet und ausgeraubt.
Jack fragte sich grimmig, ob sein Freund wirklich eines Glücksspiels wegen ermordet worden war, oder ob mehr dahintersteckte. Noch schwankte er, war jedoch fest entschlossen, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen. Eher würde er keine Ruhe haben. Selbst hier, von Freunden umgeben, war er rastlos, und tief drinnen quälte ihn das Gefühl, der Sache müsste eine vorhergegangene Affäre zugrunde liegen. Stimmte die Vermutung, war diese Glücksspielgeschichte nur vorgeschoben.
Ach, zum Teufel damit! Das Problem musste warten, bis er wieder in London war. Im Augenblick konnte er sowieso nichts tun. Er war hergekommen, um die Gesellschaft seiner Freunde zu genießen.
Als ihm Lucy Horne wieder ein fi el, musste er lächeln. Früher, bevor er hart und illusionslos geworden war, hätte er sie sicher unwiderstehlich gefunden, doch diese Zeit war längst vorbei. Seiner Familie zuliebe würde er natürlich irgendwann heiraten müssen, bevorzugt eine reifere Frau, vielleicht eine junge Witwe, die nicht mehr den Himmel auf Erden erwartete. Er brauchte einen Erben für seine Güter, aber er hatte sich daran gewöhnt, allein zu leben, und glaubte, das Ehe- und Familienleben würde ihm nicht behagen. Natürlich hatte er eine Mätresse, die aufzusuchen es ihn jedoch nicht allzu oft verlangte, da er bisher von P fl ichten überladen gewesen war. Bis vor Kurzem hatte er an Hei rat sowieso keinen Gedanken verschwendet, und auch jetzt fand er, er wäre als Junggeselle besser dran, selbst wenn ihm hin und wieder etwas zu fehlen schien. Allein, ein sanftes, süßes Mädchen zu ehelichen stand gar nicht zur Debatte! Verrückt, überhaupt nur daran zu denken! So charmant Miss Horne zweifellos war, für ihn war sie nichts.
Energisch vertrieb er Lucy aus seinen Gedanken und begab sich auf sein Zimmer. Wie versprochen würde er drei Tage bleiben und dann wieder nach London zurückkehren und sich dem Mann an die Fersen hängen, den er für Davids Tod verantwortlich machte.
Lucy erwachte schon früh am Morgen. Die helle Sonne, die in ihr Fenster schien, lockte sie hinaus, denn noch konnte sie einen Spaziergang machen, ohne von anderen gestört zu werden.
Nachdem sie sich angekleidet hatte, ging sie bis hinunter zum See, der im morgendlichen Sonnenlicht glitzerte, verlockend und geheimnisvoll. In der Mitte der Wasser fl äche gab es ein kleines Eiland mit einem Tempelchen darauf, das wie aus einem
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