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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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fast depressiv wirkender Typ. Als Sergej und ich ihn besuchten,
war er gerade in besonders düsterer Stimmung. Er lag im Krankenhaus. Bei einem
Einsatz in der Taiga hatte er sich einen Zeckenbiss zugezogen. »Enzephalitis«,
sagte er müde. »Berufskrankheit.«
    Ich hatte schlimme Geschichten über die Spätfolgen von Zeckenbissen
gehört. Grischa lächelte düster, als ich danach fragte. »Vergiss die Zecken«,
sagte er. »Viel schlimmer sind die Mücken. Um diese Jahreszeit geben sie dir
keine Ruhe. Manchmal sind es so viele, dass sie die Sonne verdunkeln. Du wirst
nicht mehr wissen, wo dein Körper aufhört und wo die Mücken anfangen. Was
guckst du denn so verschreckt? Mach dir keine Sorgen, an die Mücken gewöhnt man
sich. Viel schlimmer sind die Moschki.«
    »Die was?
    »Moschki. Winzige Viecher, die durch jedes Loch kriechen, gegen die
hilft nicht mal ein Imkernetz. Wenn sie zubeißen, jaulst du vor Schmerz. Die
sind nicht wie Mücken, die dir einen sauberen kleinen Stich setzen – Moschki
reißen dir das Fleisch aus dem Leib. Wenn sie richtig zulangen, erkennst du
dich im Spiegel nicht wieder. Aber keine Sorge, an die Moschki gewöhnt man sich
auch irgendwann. Viel schlimmer sind die Mokrezy …«
    »Grischa, danke, es reicht …«
    » … und noch schlimmer …«
    »Genug!«
    »… sind die Slepni.«
    Zurück in San Sanytschs Haus entdeckte ich ein Schulbuch mit dem
Titel »Grundlagen sicherer Lebensführung für die sechsten Klassen,
herausgegeben von J. L. Worobjowa, Verdiente Lebensretterin der Russischen
Föderation, Heldin Russlands«. Auf Seite 136 schreibt Frau Worobjowa: »In der
Taiga fallen zwischen Mai und September Schwärme blutsaugender Mücken, Moschki,
Mokrezy und Slepni über alles Lebende her. Sie kriechen in Nase, Ohren, Mund und
unter die Kleidung, ihre Bisse sind schmerzhaft und können Nervenzusammenbrüche
auslösen. Sich an sie zu gewöhnen ist unmöglich, und Schutz gibt es praktisch
nicht.«
    Deprimiert schlug ich das Buch zu. Wenn schon eine Heldin Russlands
vor den Insekten kapitulierte, wie sollte ich dann die Taiga überleben?
    Das Warten zog sich hin. Am vierten Tag begann der Flusspegel
langsam zu sinken, am sechsten stieg er wieder an. Bei meiner morgendlichen
Runde mit Tischka, dem Hund, steckte ich jetzt immer einen Ast in den Ufersand,
um den Wasserstand zu markieren. Reichte das Wasser am nächsten Morgen nicht
mehr an den Ast heran, stieg meine Laune schlagartig. Stand der Ast unter
Wasser, verschlechterte sie sich.
    Abasas Freizeitangebote waren schnell ausgeschöpft. Das Heimatmuseum
zeigte eine Ausstellung über den Großen Vaterländischen Krieg. Das örtliche
Lenin-Denkmal war aus vergoldetem Beton. In der Diskothek »Zum Geologen«
betranken sich unterbezahlte Schachtarbeiter und arbeitslose Stahlarbeiter. Die
städtische Eisenerzmine war noch in Betrieb. Das Stahlwerk, einst der
Daseinsgrund von Abasa, war seit Jahrzehnten geschlossen.
    Ich machte lange Spaziergänge mit Tischka, dem Hund. Ich las mich
durch San Sanytschs Bibliothek. Ich ordnete meine Notizbücher. Ich ordnete sie
noch einmal, dann ordnete ich sie noch einmal. Die größte Abwechslung waren die
Abende, an denen San Sanytsch die Banja einheizte. Das kleine Badehaus stand im
Garten, es ersetzte die Dusche. Wie die meisten Häuser in Abasa hatte San
Sanytschs Haus weder ein Bad noch eine Toilette. Ein Plumpsklo stand im
hinteren Teil des Gartens. Das Wasser kam aus einem selbstgebohrten Brunnen.
    Manchmal fragte ich mich, ob San Sanytsch mit seinem Leben zufrieden
war. »Sibirien hat keine Verwendung für gebildete Menschen«, sagte er einmal,
als wir zusammen in der Banja saßen. »Sibirien braucht nur Sklaven. Wir sollen
arbeiten, damit die Moskauer nicht arbeiten müssen. Wir sind eine Kolonie
Europas.«
    Er war im Grunde kein unsympathischer Mensch. Aber irgendetwas nagte
an ihm. Ein erstickter Ehrgeiz schien seine Seele zu zerfressen, ein inneres
Kapitulieren vor äußeren Widrigkeiten. Ich versuchte, es ihm nicht übel zu
nehmen, wenn er seine Kränkungen nach außen wendete, aber je länger ich bei ihm
lebte, desto schwieriger wurde unser Verhältnis. Seine Monologe uferten immer
weiter aus, und San Sanytsch reagierte zunehmend gekränkt, wenn er merkte, dass
ich ihm nicht zuhörte. Er ließ mich spüren, dass mein Schicksal in seiner Hand
lag – wie würde ich mich ohne ihn in der Taiga zurechtfinden? Wusste ich, wie
man Feuerholz auftreibt, wie man sich Bären vom Leib hält, wie man

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