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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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fühlte sich von Russland umzingelt, infiltriert
und vergiftet. »Bist du wahnsinnig?«, schrie er, als ich im Auto eines
Nachmittags eine Tafel Aljonka-Schokolade auspackte. »Weißt du, was da für eine
Scheiße drin ist? Russische Schokolade ist pures Gift! Willst du dich
umbringen?« Er riss mir die angebrochene Tafel aus der Hand und schleuderte sie
aus dem Fenster. An der nächsten Tankstelle kaufte er mir eine Schachtel
österreichische Pralinen. »Ich hoffe bloß, sie sind wirklich aus Österreich.
Die russischen Läden sind voll mit gefälschten Importprodukten – außen
westlich, innen russisch.«
    Katja, Olegs Frau, lächelte manchmal über den Verfolgungswahn ihres
Mannes. Aber seine Unzufriedenheit teilte sie. Beide träumten seit langem
davon, auszuwandern – nach Kanada, nach England, nach Australien, irgendwohin,
wo die Straßen keine Schlaglöcher haben und die Menschen keine Seelenschäden,
wo die Verkehrspolizisten unbestechlich sind und die Süßigkeiten nicht
vergiftet. Seit Jahren lernten die beiden Englisch. Während der Fahrt fragten
sie sich manchmal Vokabeln ab oder baten mich, ihnen komplizierte Wörter zu
übersetzen, an denen ich regelmäßig scheiterte: sophisticated, face value,
gentrification . Nach jeder Verkaufstour legten sie ein bisschen
Geld beiseite, in der Hoffnung, mit den Ersparnissen ihre Ausreise finanzieren
zu können. Der Ikonenhandel war ihr Fluchtweg. Sie verkauften Russlands
Heiligtümer, um Russland zu entkommen.
    Es war nicht das abwegigste Geschäftsmodell. Ikonen hatten
Konjunktur. In fast jeder Kleinstadt, die wir auf dem Weg nach Süden
durchquerten, stand eine brandneue Kirche, oder es wurde gerade eine gebaut. Zu
jeder einzelnen fiel Oleg eine Korruptionsgeschichte ein, aber das war nicht
der Grund, warum ich die nagelneuen Gotteshäuser immer wieder ungläubig
anstarrte. Siebzig Jahre lang hatte dieses Land alles getan, um seine Kirchen
loszuwerden. Jetzt konnten nicht schnell genug neue gebaut werden.
    Die Arbeiter, die durch die eingerüsteten Rohbauten kletterten,
kamen fast alle aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien. In einem
kleinen Ort in der Nähe von Krasnodar kam ich mit ein paar Tadschiken ins
Gespräch, die seit zwei Jahren ihre Familien nicht gesehen hatten. Sie wohnten
in einem Container neben der Kirche, ihren Lohn schickten sie nach Hause.
    »Tadschikistan, schönes Land«, erklärten sie mir in gebrochenem
Russisch. »Alles schön. Aber keine Arbeit.«
    »Gibt es da keine Kirchen zu bauen?«
    »Keine Kirchen. Moscheen.«
    »Und wer baut die?«
    Sie lachten. »Chinesen.«
    Auf halber Strecke fing ich an, die Kirchen und die Lenin-Denkmäler
zu zählen. Meine Rechnung blieb unvollständig, weil wir selten lange genug an
einem Ort blieben, um die ganze Stadt abzulaufen. Grob geschätzt lagen die
Lenin-Denkmäler zahlenmäßig immer noch in Führung, aber es zeichnete sich ab,
dass sie das Rennen verlieren würden.
    Oft fragte ich mich, ob irgendjemand außer mir die Lenin-Statuen
überhaupt noch wahrnahm. Die Menschen liefen an ihnen vorbei wie an Bäumen oder
Laternenpfählen. Einsam und ignoriert stand dieser kleine, überlebensgroße Mann
auf jedem dritten Dorfplatz, die Hand zur Faust geballt, in der Tasche
vergraben oder in die Ferne weisend. Manchmal deutete Lenins Zeigefinger genau
auf eine der neugebauten Kirchen. Gott bestrafte ihn für seine Sünden, indem er
seine Posen verspottete.
    Eines fernen Tages, stellte ich mir vor, würden die Denkmäler
langsam verfallen, der Frost würde ihre Glieder absprengen, der Regen ihre
Gesichtszüge abschleifen, bis irgendwann nur noch unförmige Steinstelen übrig
bleiben würden, die nichts mehr unterschied von den Grabmälern der alten
Nomadenvölker. Lenin würde eins werden mit der Steppe, ein vergessener Krieger,
eine Gottheit unter vielen.
    Während wir Russland südwärts durchquerten, verfolgt von Lenin, den
Kofferraum voller Ikonen, fragte ich mich, ob dieses Land jemals ohne einen
Glauben auskommen würde. Gemalte Götter hatten die Holzgötter verdrängt,
Marmorstatuen die Ikonen, jetzt kehrten die Kirchen zurück. Eine ewige
Sehnsucht nach Erlösung trieb Russland voran, ein Leiden am Diesseits, dem nur
ein Jenseits den Schmerz nehmen konnte. Selbst Oleg und Katja waren nicht frei
davon, ich spürte es, wenn sie mir von den fernen Ländern erzählten, in denen
sie ihre Zukunft verbringen würden. Der Westen, den sie sich ausmalten, hatte
wenig mit dem Westen zu tun, den ich
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