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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Krieg.
    Eines Sommertags saß er dösend in der Steppe, den Kopf an seinen
Traktor gelehnt. Vom Horizont her näherte sich langsam der Schatten eines
zweiten Traktors. Am Steuer erkannte Piwowarow den Kolchosevorsitzenden. Neben
ihm saß ein Unbekannter in Uniform. Als Piwowarow begriff, dass es Zeit war zu
sterben, sprang er auf und rannte humpelnd durch die Steppe, zum Haus seiner
Zieheltern, wo der Revolver lag. Der Uniformierte sprang vom Traktor und rannte
Piwowarow hinterher. Er war schneller.
    Wieder landete Piwowarow in einem sibirischen Kohlebergwerk. Diesmal
störte sich niemand an seinem verkrüppelten Bein. Nach einem Jahr verriet ein
Mitgefangener den Aufsehern, dass Piwowarow in der Wehrmacht nicht als
einfacher Soldat, sondern als Offizier gedient hatte. Man stellte ihn erneut
vor Gericht. Am Ende der kurzen Verhandlung spannte der Gerichtsschreiber einen
Streifen Papier in seine Schreibmaschine und tippte: »Erschießen«.
    Neunzig Tage lang wartete Piwowarow auf seine Hinrichtung. Dann
besuchte ihn ein Staatsanwalt in der Zelle. Der Mann war Jude, aber er mochte
Piwowarow, er stellte ihm eine neue Anhörung in Aussicht und gab ihm Hinweise,
wie er sich verhalten, was er sagen solle. Am Ende der Anhörung spannte der
Gerichtsschreiber einen neuen Streifen Papier ein, diesmal tippte er: »25
Jahre«.
    Piwowarow schleppte sein steifes Bein durch Bergwerke und Metallkombinate,
er verlegte Bahngleise und rodete Wälder, er lernte den Frost kennen und den
Hunger und die Schläge der Aufseher. Beim Bau einer Straße an der chinesischen
Grenze lernte er seine spätere Frau kennen, eine Kosakin vom Don, Piwowarow sah
es ihr sofort an.
    Kurz nach Stalins Tod wurden sie beide vorzeitig aus der Haft
entlassen. Sie heirateten in Kriwjanskaja. Von den zweihundertfünfzig Kosaken,
die sich der Wehrmacht angeschlossen hatten, war Piwowarow der Einzige, der in
sein Heimatdorf zurückkehrte. Da kommt der Faschist, sagten die Dorfbewohner,
wenn Piwowarow an ihnen vorbeilief – wie geht’s dir, Faschist? Piwowarow
lernte, mit den Bemerkungen umzugehen, wie er gelernt hatte, sich mit seinem
unbeugsamen Bein zu arrangieren. Er zog fünf Kinder groß und arbeitete als
Traktorist und aß jeden Tag vier Eier.
    »Haben Sie es je bereut?«
    Piwowarow starrte mir hart in die Augen. Eine trotzige Antwort
schien ihm auf der Zunge zu liegen, aber bevor sie ihm über die Lippen ging,
überlegte er es sich anders. Nachdenklich kehrte sich sein Blick nach innen.
»Um meinen Erstgeborenen tut es mir leid«, sagte er. »Serjoschka.«
    Sein ältester Sohn war ein kluger Kopf gewesen, der Klassenbeste,
alle Lehrer hatten ihn gemocht. Nach der Schule hatte er sich an einer technischen
Hochschule beworben. Man lehnte ihn ab. Begründung: »Sohn eines Volksfeinds«.
Serjoschka verkraftete die Ablehnung nicht. Er fing an zu trinken, zettelte
Schlägereien an, kam mit Stichwunden nach Hause, trank weiter. Serjoschka wurde
nicht alt.
    »Bist du über die Landstraße ins Dorf gekommen?«, fragte Piwowarow.
    Ich nickte.
    »Hast du gesehen, wie hoch das Gras in der Steppe steht? Früher
haben es die Pferde gefressen. Es gibt keine mehr. Im ganzen Dorf nicht. Kein
einziges.«
    Bevor ich ging, zeigte mir Piwowarow seinen Garten, in dem ein
riesiges Gewächshaus stand. Das Gewächshaus gehörte nicht ihm, sondern einem
Gemüsegroßhändler, der mehrere Grundstücke in Kriwjanskaja gepachtet hatte.
Früher war die Siedlung berühmt für ihre Pferde gewesen. Jetzt war sie berühmt
für ihre Tomaten.
    Piwowarow sah sich in alle Richtungen um. In den Nachbargärten war
kein Mensch zu sehen. Leise öffnete er die Tür des Gewächshauses. Er beulte
sein Unterhemd aus und füllte es mit Tomaten, seine Griffe waren schnell und geübt,
er schien den Pächter nicht zum ersten Mal zu beklauen.
    »Hier. Für den Weg.«
    Grinsend schüttete er die Tomaten in meine Tasche. Das hier war
immer noch seine Erde.

Ein Kofferraum voller Ikonen
    Von Kriwjanskaja aus fuhr ich zurück nach Rostow. Als der
Bus das Zentrum der alten Don-Metropole durchquerte, sah ich plötzlich die
bizarre Silhouette des Theaters an den Fenstern vorbeiziehen, ein Traktor aus
Glas und Beton, zwischen den Häusern geparkt wie das Spielzeugauto eines
riesigen Oktoberkinds.
    Ein Freund aus Moskau hatte mir die Adresse einer Rostower Familie
gegeben. Sie lebten am Stadtrand, in einer neugebauten Reihenhaussiedlung. Als
ich ankam, platzte ich mitten in eine Geburtstagsfeier. Großvater Viktor
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