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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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kannte. Er war keine Himmelsrichtung, er
war das Paradies.
    Erst gegen Ende unserer Reise begriff ich langsam, dass Oleg und
Katja Russland nie verlassen würden. Ihr Auswanderungstraum war ein Traum,
nicht mehr und nicht weniger. Er linderte ihr Leiden an Russland, sie zehrten
von ihm, er schweißte sie zusammen – und sie gaben ihn weiter, an ihre Kinder.
Zweimal in der Woche schickten sie Nastja und Wanja nachmittags in eine
Sprachschule. Während der Fahrt telefonierten sie oft mit den Kindern und
ließen sich englische Vokabeln aufsagen. Bei einem der Telefongespräche stellte
sich heraus, dass Wanja den Unterricht geschwänzt hatte. Statt Englisch zu
lernen, hatte er den Nachmittag am See verbracht.
    »Wanja«, hörte ich Katja am Telefon sagen, »warum machst du das? Du
hast doch versprochen, in die Schule zu gehen.«
    Oleg riss ihr das Handy aus der Hand. »Wie oft habe ich dir gesagt,
dass du Englisch lernen musst? Meinst du, in Kanada werden die Leute Russisch
mit dir sprechen? Willst du den Rest deines Lebens in Russland verbringen,
willst du für immer in dieser Scheiße festsitzen?«
    Auf den letzten Kilometern schlängelte sich die Straße in
Serpentinen an der Schwarzmeerküste entlang, durch die nördlichen Ausläufer des
Kaukasus. Als die ersten Zypressen und Mandarinensträucher auftauchten, drang
der Duft des Südens durch die geöffneten Autofenster. Vor uns lag Sotschi,
Russlands subtropisches Badeparadies.
    Nachdem wir die letzte Kirche mit Ikonen versorgt hatten, setzten
Oleg und Katja mich im Stadtzentrum ab und fuhren zurück nach Rostow. Ich
mietete mir ein Hotelzimmer und lief durch die völlig überfüllte Stadt, an
deren Stränden im Hochsommer halb Russland Urlaub macht. Mädchen in Bikinis und
hochhackigen Sandalen saßen in den Küstencafés, umworben von slawischen
Männern, die sich unter der Sonne in ihr eigenes Negativ verwandelt hatten: die
Haare gebleicht, die Haut gedunkelt. Selbst Lenin wirkte südlich verfärbt: Ein
riesiges Mosaik im Stadtpark zeigte sein Gesicht in grellen Orangetönen.
    Im Park kam ich mit einem alten Mann ins Gespräch, einem Abchasier
namens Guri, den es im Bürgerkrieg nach Russland verschlagen hatte. Auf seiner
Schulter saß ein roter Papagei, der sich ständig in unser Gespräch einmischte,
mit einem gekrächzten Wort, das ich erst nicht verstand: »Prrrobki! Prrrobki!«
Guri verlieh den Papagei für Urlaubsschnappschüsse an Touristen. Ich staunte,
als er mir erzählte, dass er schon zu Sowjetzeiten mit einem Papagei auf der
Uferpromenade seiner abchasischen Heimatstadt gestanden hatte.
    »Das heißt, Sie waren Privatunternehmer?«
    »Wie kommen Sie darauf? Ich war Angestellter der Tourismusbehörde!
Mein Papagei war Teil des Fünfjahresplans!«
    »Prrrobki! Prrrobki!«
    Ich deutete auf den Papagei. »War es dieser?«
    »Nein.« Guri seufzte. »Der ist neu. Damals hatte ich einen guten
Vogel, den besten der ganzen Küste. Er konnte alles nachsprechen, alles! Sein
Lieblingssatz war: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Deprimiert
deutete Guri auf den Nachfolger des Proletarierpapageis. »Der da lässt sich
nichts beibringen. Er plappert nur nach, was er im Radio aufschnappt.«
    »Prrrrobki! Prrrrobki!«
    Endlich verstand ich. Das Gekrächze war eine Verkehrsdurchsage:
Stau! Stau!
    »Den alten Papagei habe ich im Krieg verloren, ich weiß nicht, was aus
ihm geworden ist. Vielleicht lebt er noch. Papageien können dreihundert Jahre
alt werden.«
    »Prrrobki!«
    Dreihundert Jahre! Ich sah plötzlich einen Papagei vor mir, der sich
an Lenin erinnerte, an die Revolution, an den Zaren. Wer weiß, vielleicht gab
es irgendwo in Sotschi Papageien, die altgläubige Choräle singen konnten.
Leider stellten sich, als ich unter den Papageienbesitzern im Park herumfragte,
alle Vögel als postsowjetische Einwanderer heraus. Nur einer, ein Ara aus
Südamerika, sollte gerüchteweise die Perestroika miterlebt haben. »Aber er
spricht nicht viel«, sagte sein Besitzer bedauernd. Der Papagei und ich
starrten uns blöde an – zwei Ausländer, die keine gemeinsame Sprache finden.
Ich blinzelte zuerst.
    Abends, kurz bevor die Sonne unterging, schwamm ich ins Schwarze
Meer hinaus, so weit, wie mein Atem reichte. Keuchend drehte ich mich auf den
Rücken und ließ mich treiben. Das Licht des Südens färbte den Himmel rosa und
lila. Der Strand war immer noch schwarz vor Menschen, dahinter leuchtete das
Grün der subtropisch überwucherten Berghänge. Als mein Blick
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