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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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verjagte jeden Schatten der
Katastrophe. Irgendwo da draußen musste ein Reaktor stehen, aber er wirkte
plötzlich Lichtjahre entfernt.
    »Also«, begann Vater Nikolaj. Er sprach abrupt, seine Sätze nahmen
ihren Anfang oft vom Ende her, wie bei jemandem, der das Sprechen spät im Leben
entdeckt hat. Draußen vor den Fenstern dämmerte es, während er seine Geschichte
begann. Erst später, als Vater Nikolaj mich in seinem Auto zurück zur
Zonengrenze fuhr, näherte sich seine Erzählung langsam dem Anfang.
    »Also. Es war folgendermaßen.«
    Vater Nikolaj hieß, als es geschah, noch nicht Vater Nikolaj. Wie
auch die Zone nicht Zone hieß. Tschernobyl hieß Tschernobyl, aber gemeint war
eine Stadt, keine Katastrophe. Gott hieß Gott, aber man nannte ihn besser nicht
beim Namen.
    Kernkraftwerke betreiben Spaltung, dazu sind sie da. Dieses eine
aber, in dessen Schatten Vater Nikolaj aufwuchs, dieses eine spaltete alles:
Lebenswege, Familien, Namen. Und die Zeit. Erst nachher wusste man, dass es ein
Vorher gab.
    Vater Nikolaj hieß, als es geschah, Nikolaj Jakuschin, er arbeitete
in einem Landmaschinenkombinat, er war Ingenieur. Ein Ingenieur weiß, wie ein
Kernkraftwerk funktioniert. Ein Priester weiß, wie eine Seele funktioniert.
Vater Nikolaj wusste beides. Er wusste auch, dass das Kernkraftwerk keine Seele
hat. »Wie soll es eine haben, wo es ohne Seele gebaut wurde?«
    Mit der flachen Hand schlug Vater Nikolaj auf das Lenkrad seines
Opels, Baujahr 94. Der Opel war alt, aber er hielt das aus. Warum? Weil die
Deutschen ihn mit Seele gebaut hatten. »Wir«, sagte Vater Nikolaj, aus dem
Autofenster deutend, auf die Schornsteine und die Strommasten und die
Stahlträger und den ganzen sowjetischen Rest, »wir haben siebzig Jahre lang
gebaut und gebaut und gebaut. Aber wir haben es ohne Seele getan.«
    Die Jakuschins waren ein Priestergeschlecht. Nikolajs Urgroßvater
hatte in der Heilig-Ilja-Kirche gedient, Nikolajs Großvater ebenfalls. Dann
waren die Bolschewiken gekommen. Sie hämmerten an die Kirchentür und riefen:
Hör auf zu beten, Väterchen, der Mensch hat keine Seele. Der Großvater war
nicht einverstanden: Der Mensch, sagte er, hat sehr wohl eine Seele, und sie
ist unsterblich. Die Bolschewiken sperrten den Großvater ein. Als er freikam,
war er alt. Das war sein Glück. Er starb früh genug, um Stalins Terror zu entgehen,
den kaum ein Kleriker überlebte. Der Sohn des Großvaters, Nikolaj Jakuschins
Vater, wurde kein Priester. Die Zeiten waren nicht so.
    Nikolaj wurde trotzdem getauft, heimlich, zu Hause, wie es die
meisten Orthodoxen taten. Wer seine Kinder in der Kirche taufen ließ, musste
mit beruflichen Schikanen rechnen. Als Nikolaj geboren wurde, kurz nach
Kriegsende, war das Gotteshaus ohnehin geschlossen, die örtliche Kolchose
nutzte es als Getreidesilo. So lernte Nikolaj die Kirche seiner Väter kennen:
bis unter die Kuppel mit Weizen gefüllt. An der Decke verblasste ein bedrängter
Christus, die Hände mehr abwehrend als segnend über die Körner gebreitet.
    Das Städtchen Tschernobyl, ukrainisch Tschornobyl, ist alt, uralt,
auch wenn man es ihm nicht mehr ansieht. Kein Bau aus der Gründungszeit ist
geblieben. Erst schleiften die Mongolen die Stadt, später kamen Litauer, Polen,
Bolschewiken, zuletzt die Deutschen. Heute stehen zwischen lauter Plattenbauten
nur noch ein paar Holzhäuser, keins davon älter als zwei Jahrhunderte.
Gegründet aber wurde Tschornobyl zeitgleich mit Kiew, und als Fürst Wladimir im
Jahr 988 seine Untertanen taufen ließ, gehörten die Tschornobyler zu den ersten
Christen der slawischen Welt.
    Wem diese Vergangenheit noch gegenwärtig war im Zukunftsrausch der
Sowjetzeit, den wunderte auch nicht, dass hier, in Tschornobyl, tausend Jahre
nach der Slawentaufe, die Zeit an ihr Ende kommen sollte, wie es verkündet
worden war in der Offenbarung:
    Und
der dritte Engel blies seine Posaune; und es fiel ein großer Stern vom Himmel,
der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und
auf die Wasserquellen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte
Teil der Wasser wurde zu Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern,
weil sie bitter geworden waren.
    Dies schrieb Johannes in Kapitel 8, Vers 10 und 11. Wermut aber
heißt auf Ukrainisch: Tschornobyl.
    Es war ein grauer Morgen, der letzte vor der Karwoche. Nikolaj
Jakuschin war auf dem Weg zum Markt, er wollte Fisch kaufen für das Fastenmahl.
Von Kiew her sah er Autokolonnen auf das
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