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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Kraftwerk zusteuern, Soldaten,
Feuerwehrmänner, Mediziner, alle in Atemmasken. Die Leute im Ort stellten
Fragen. Niemand beantwortete sie. Eine Übung, dachte Nikolaj Jakuschin. Es muss
eine Übung sein. Vom Kraftwerk her wehte Rauch.
    Am Ostermontag, neun Tage nach dem Unfall, wurde Tschornobyl
evakuiert. Es ist nur zeitweise, sagte man den Leuten. Niemand glaubte es. Die
Alten mussten mit Gewalt in die Busse verfrachtet werden. Wo ist denn diese
Strahlung, fragten sie, wovon redet ihr, wir sehen nichts!
    Soldaten schlossen die Häuser ab. Sie versiegelten die Kirche.
Stille legte sich über Tschornobyl. Christus breitete seine blassen Hände über
das verwaiste Kirchenschiff, zwischen den Bodenplanken stöberten Mäuse nach
Getreideresten. Der Wind trug Samen durch die zerbrochenen Fenster, Unkraut
überwucherte den Altar.
    Eines Tages kamen Plünderer. Auf der Suche nach Altmetall zogen sie
durch die Zone und brachen die verlassenen Häuser auf. Sie knüpften ein Stahlseil
an die versiegelte Kirchentür und spannten es vor einen Traktor. Das Seil riss.
Sein geborstenes Ende fuhr durch die Luft, es suchte ein Ziel und fand einen
Sünder. Einer der Plünderer brach zusammen, getroffen mitten ins Gesicht, die
anderen flohen. Jeder in der Zone kennt die Geschichte von Gottes Rache.
    Nikolaj Jakuschin war mit seiner Familie nach Kiew ausgesiedelt
worden. Ab und zu kehrte er zurück in seine Heimatstadt, dann stand er vor der
Kirche und weinte. Die Metallkuppel des Glockenturms löste sich, sie quietschte
im Wind. Die Wände bröckelten. Wildschweine hatten den Kirchhof zerwühlt, die
Grabkreuze ragten schief aus der geschändeten Erde.
    Eines Tages hielt Nikolaj Jakuschin es nicht mehr aus. Er stellte
sich vor die Residenz des Kiewer Bischofs und rührte sich nicht vom Fleck, bis
die Kirchenoberen ihm zuhörten. Die Kirche meiner Väter verfällt, sagte er. Die
Kirche braucht einen Priester. Die Oberen gingen in sich. Nach einem Monat
riefen sie Nikolaj zu sich. Wir haben gesucht, sagten sie, aber wir haben
niemanden gefunden. Keiner will da hin. Versetz dich in die Lage der Priester –
du würdest dich doch auch nicht in die Zone schicken lassen.
    So aber geschah es, dass Nikolaj Jakuschin zu Vater Nikolaj wurde.
    Zehn Jahre war das nun her. Eine Zeit lang lappte sein altes Leben
ins neue. Ein Ingenieur weiß, wie man ein Haus herrichtet, und sei es ein
Gotteshaus. Vater Nikolaj baute ein Gerüst. Bevor er aufs Kirchendach stieg,
bekreuzigte er sich. Die Kuppel richtete er selbst. Er verputzte die Wände und
ersetzte die Fenster, er jätete das Unkraut und malte dem blassen Christus die
Hände nach.
    Als alles fertig war, stellte Vater Nikolaj eine große Ikone vor die
Altarwand. Die Ikone kam aus Kiew. Einer der Aufräumarbeiter, die nach dem
Unfall durch das schmelzende Kraftwerk gekrochen waren, hatte sie malen lassen.
Dem Mann war im Traum der Erlöser erschienen. Christus wandelte auf einer
Wolke, die Wolke schwebte über dem Kraftwerk, ein Stern namens Wermut fiel vom
Himmel, in seinem Licht sammelten sich die Toten und die Überlebenden der Zone.
    Der Mann hatte seinen Traum malen lassen. Vater Nikolaj zeigte mir
die Ikone. Sie war unorthodox geraten. In der Ikonenmalerei sind Menschen nicht
vorgesehen, Menschen in Feuerwehruniformen schon gar nicht, von Menschen in
Gasmasken ganz zu schweigen. Trotzdem fand die Ikone den Segen der Kirche, der
Kiewer Metropolit weihte den »Erlöser von Tschernobyl« persönlich. Noch während
er seine Gebete sprach, ereignete sich das erste Wunder: Eine Taube flog dicht
am Bildnis vorbei, fast streiften ihre Schwingen den Erlöser. Als man das Bild
wenig später mit Weihwasser besprengte, umwölbte ein Regenbogen wie ein
Heiligenschein die Ikone. So ging es weiter, Wunder auf Wunder, Vater Nikolaj
hatte Dutzende von Zeugnissen gesammelt. Trug man die Ikone durch eine
verregnete Stadt, klarte der Himmel auf. Stellte man sie in eine Kirche,
bildete sich über der Kuppel ein Regenbogen. Eine Gelähmte, seit Kindestagen
ohne Gewalt über ihren Arm, betete kniend vor dem Bildnis, bis sich ihre Finger
regten.
    Vater Nikolaj war mit der Ikone durch die halbe Ukraine gewandert,
vom Schwarzen Meer bis nach Tschernobyl, den gleichen Weg, den einst der
Slawenapostel Andreas gegangen war. Die Ikone wirkte ihre Wunder. Sie half den
Menschen, und aus Dankbarkeit halfen die Menschen Vater Nikolaj. Mit dem Geld,
das man ihm in den Beutel warf, renovierte er daheim seine Kirche.
    Als die
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