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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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verschlafener Rentner blinzelte irritiert in
das unerwartete Blitzlichtgewitter. Nach ein paar Sekunden zog er sich fluchend
zurück.
    Lange nachdem die Touristen verschwunden waren, stand ich immer noch
da und starrte das eingeschneite Zelt an. Ein unerklärlicher Respekt vor seinen
Bewohnern überkam mich plötzlich – vor ihrer Sturheit, ihrer Unbelehrbarkeit,
selbst vor dem Größenwahn ihres gescheiterten Gesellschaftsexperiments. Ich sah
mich um. Die Straße war menschenleer, nur vereinzelt brannte Licht in den
Fenstern der umliegenden Häuser. Von den Menschen, die hinter diesen Fenstern
lebten, mussten viele einmal denselben Traum geträumt haben, der Vera Jefimowna
und ihre Genossen bis heute wach hielt. Von was träumten die Menschen hinter
den Fenstern jetzt? Hatten sie überhaupt noch Träume? Ich wusste es nicht, ich
war unterwegs, um es herauszufinden.
    Lenin thronte über dem Zelt wie ein steinerner Totempfahl, ein
heidnischer Gott, das Idol einer Sekte. Noch immer gab es ein paar Jünger, die
von seinen Lippen das Versprechen einer besseren Welt ablasen, nicht im
Jenseits, sondern hier, auf Erden. Sie träumten den alten Traum, auch wenn es
ein Albtraum war, voller Blut und Knochen und Leid. Sie hatten dem Traum zu
viel geopfert, sie waren zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren. Je weiter
sie ins gesellschaftliche Abseits gerieten, desto sturer wurden ihre
Überzeugungen. Sie waren wie die Altgläubigen. Eines Tages würden sie nach
Sibirien fliehen, und ihren Lenin würden sie mitnehmen. Irgendwann, in
dreihundert Jahren vielleicht, würde dann ein deutscher Journalist auf ihren Spuren
durch Russland reisen, um tief in der Taiga den letzten Kommunisten
aufzuspüren.
     
    Am Tag vor meiner Abreise kehrte ich zum Dnjepr zurück. Es
war ein sonniger Tag, der erste seit meiner Ankunft in Kiew. Lichtreflexe
tanzten über die splittrige Eiskruste, die der gefrorene Fluss über die Ufer
geschoben hatte. Im Takt meiner Schritte krachte der Strand.
    Ich hörte sie, bevor ich sie sah. Spritzendes Wasser, sinnliches
Schnauben, nur ein Gebüsch trennte mich von den Geräuschen. Als ich es umrundet
hatte, stand ich zu dicht vor den Nackten, um sie noch ignorieren zu können.
Sie waren alt, ihre müde Haut fand kaum Halt in den Badehosen und Bikinis. Aber
ihre Augen glänzten. Drei Männer und vier Frauen standen um ein Eisloch, in dem
schwarzes Flusswasser schwappte, eine fünfte Frau watete gerade hinein. Als sie
bis zur Hüfte im Wasser stand, ließ sie sich schnaubend vornüber fallen und
schwamm bis an den hinteren Eisrand des Beckens, bevor sie umkehrte und zurück
an Land stieg. Stöhnend schüttelte sie sich, Wassertropfen spritzten von ihrer
geröteten Haut. Mir fiel auf, dass ich das geschichtsgesättigte Wasser des
Dnjepr am Körper dieser Frau zum ersten Mal wirklich sah. Bisher hatte mich
eine Schicht Eis von ihm getrennt.
    Ich witterte religiöse Motive. Als ich nachfragte, lachten sie alle.
    »Religiös? Seit wann sind Eisbader religiös?«
    »Wir sind Kommunisten! Wir glauben an gar nichts!«
    »Ich bin kein Kommunist!«
    »Sondern? Hört euch das an, Petrowitsch ist kein Kommunist.«
    »Habe ich vielleicht ein Parteibuch? Nie hatte ich ein Parteibuch!«
    »Kommunist bist du trotzdem, im Herzen bist du …«
    »An Russland glaube ich, an sonst nichts.«
    »Zum Teufel mit Russland, Russland hat uns verraten!«
    »Ich glaube nur an meine Gesundheit. Jeden Sonntag Eisbaden.«
    »Ein gesundes Land ist unbesiegbar. Wisst ihr, wer das gesagt hat?
Das hat …«
    »Keiner besiegt uns! Unser Winter kriegt sie alle klein. Die
Schweden, Napoleon, Hitler.«
    »He, Deutscher, siehst du das Weltkriegsdenkmal auf den Hügeln? Die
Mutter Heimat? Die haben wir für deine Landsleute aufgestellt.«
    »Denen hat unser Winter gar nicht gefallen.«
    »Ich wette, dem hier gefällt unser Winter auch nicht.«
    »Sieht schon ganz blass aus.«
    »He, Deutscher, ist dir kalt?«
    Und dann sahen sie mich alle an. Und kein Weg führte zurück.
    Tausend Nadeln bohrten sich in meine Haut, als ich im Wasser
versank, aber es dauerte nur einen Moment, bevor der Schmerz in Euphorie
umschlug. Als ich umjubelt an Land stieg, war ich der glücklichste Mensch in
ganz Kiew. Geprüft und getauft fuhr ich weiter nach Moskau.

BLUT
(Moskau)
    Denn es hatte sich Satan von Gott das
lichte Russland auserbeten, um es purpurrot zu färben im Blute seiner Märtyrer.
    (Erzpriester Awwakum, 1673)
     
    Bleibst nicht bei den Lebenden,
    Steigst
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