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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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Kirche fertig war, kamen die Menschen. Zuerst kamen sie aus
Neugier, sagt Vater Nikolaj, nicht, weil sie glaubten. Es kamen alte Leute, die
in die Zone zurückgekehrt waren, um in ihren verlassenen Dörfern zu leben,
Menschen, die nicht an Strahlung glaubten oder zu alt waren, um sich vor ihr zu
fürchten. Es kamen die Wachleute, die man an den Zonengrenzen postiert hatte. Es
kamen die Atomarbeiter, die das zerstörte Kraftwerk warteten.
    Alle fragten sie: Väterchen, was tust du da?
    Ich baue ein Haus, antwortete Vater Nikolaj. Ein Haus für Gott.
Damit er nach Tschernobyl zurückkehren kann.
    Und siehe: Gott kehrte zurück.
    »Wenn ein Mensch die Zone betritt«, sagt Vater Nikolaj, »dann
befindet er sich am Rande des Todes. Er hat Angst. Er denkt über das Sterben
nach, über das Danach, über die Ewigkeit. So tritt Gott in sein Leben. Den
Menschen in der Zone sieht man von außen an, wie es in ihnen arbeitet.«
    Bald begannen die Menschen, die Vater Nikolaj in der Kirche
besuchten, Fragen zu stellen. Was wird aus uns, Väterchen? Warum ist das alles
geschehen? Bestraft uns Gott? Wird er uns verzeihen? Und wenn wir sterben, ist
es wahr, dass unsere Seelen weiterleben?
    »In der ganzen Zone«, sagt Vater Nikolaj, »gibt es heute nicht einen
Ungläubigen.«
    Er muss es wissen, denn er kennt sie alle, die Rückkehrer und die
Wachleute und die Kraftwerksmitarbeiter, und Vater Nikolaj weiß, dass sie in
mancher Hinsicht besser leben als die Menschen außerhalb der Zone. Viele der
Ausgesiedelten, die in Kiew oder anderswo in der Ukraine leben, leiden an
Krankheiten, für die die Wissenschaftler keine Namen haben. Stress, sagen die
Mediziner dann, migrationsbedingter Stress, Tschernobyl-Stress. Viele sind
gestorben an diesem Stress, an Herzgeschichten, Lungengeschichten,
Blutgeschichten, Kopfgeschichten.
    »Wir dagegen«, sagt Vater Nikolaj, »wir in der Zone sind bei guter
Gesundheit, Gott der Allmächtige sei gepriesen. Die alten Menschen in den
verlassenen Dörfern sterben, aber sie sterben an Altersschwäche, nicht an
Krankheiten.«
    Dabei tranken sie sogar das Wasser. Vater Nikolaj deutete aus dem
Autofenster, neben der Straße zeichnete sich das verschneite Eisband des
Pripjat ab. Der Fluss fließt am Kraftwerk vorbei. Sein Wasser ist bitter. »Wir
segnen es«, sagt Vater Nikolaj, »dann trinken wir es.« Er schlug ein Kreuz über
dem Pripjat, im Namen des Vaters, flüsterte er, des Sohnes, des Heiligen
Geistes.
    »Man muss glauben. Wer glaubt, dem geschieht nichts.«
    Einmal im Jahr, zu Ostern, werden die Grenzen der Zone geöffnet,
dann kommen die Überlebenden und weinen um ihre Toten. Viele besuchen dann die
Kirche, es ist der größte Feiertag für Vater Nikolaj, jedes Jahr am Tag der
Auferstehung singt er die orthodoxe Osterliturgie:
    »Christus ist auferstanden von den Toten. Er hat den Tod durch den
Tod besiegt und denen im Grabe das Leben geschenkt.«
    Die ganze Nacht und bis zum Morgengrauen steht Vater Nikolaj dann in
seiner Kirche und ruft: »Christus ist auferstanden!«
    Und ein dünner, aber hörbarer Chor antwortet: »Wahrhaftig, er ist
auferstanden!«
    Kurz nach Ostern, oder kurz davor, je nach Kirchenkalender, jährt
sich der Tag der Katastrophe. Jedes Jahr läutet Vater Nikolaj am 26. April um 1
Uhr 23 die Trauerglocke im Kirchhof, ein Glockenschlag für jedes Jahr, das
vergangen ist.
    Die Wissenschaftler sagen, dass 20000 Jahre vergehen müssen, bevor
die Menschen in die Zone zurückkehren können.
     
    Vater Nikolaj setzte mich am Schlagbaum ab. In einem Bus voller
Touristen fuhr ich zurück nach Kiew. Sie kamen aus Amerika, Australien,
England, die meisten waren junge Backpacker. Sie hatten den Tag in Tschernobyl
verbracht, kaum ein Tourist in Kiew ließ sich diesen Ausflug entgehen. Zwischen
ihnen saß ein ukrainischer Exkursionsleiter und erzählte Schauergeschichten,
die immer die gleiche Pointe hatten: Tschernobyl ist gar nicht so verstrahlt,
wie alle glauben, die wirklich schlimme Strahlung lauert anderswo.
    »Wisst ihr, was der gefährlichste Ort in ganz Kiew ist?«
    Kunstpause. Kopfschütteln.
    »Das Lenin-Denkmal!«
    Kunstpause. Fragende Blicke.
    »Aus Granit! Nichts speichert Radioaktivität besser! Das Ding
strahlt wie am ersten Tag!«
    Als wir nachts in Kiew ankamen, lief die ganze Gruppe geschlossen zum
Denkmal. Lenin und sein kommunistischer Wachschutz wurden ausgiebig
fotografiert. Das rote Zelt wirkte verlassen, dann aber wurde von innen ein
Reißverschluss aufgezogen, und ein
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