Mein russisches Abenteuer
Achtzigerjahre versuchte Fomenko erstmals, seine
Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, er schrieb ein Buch. Kurz vor der
Drucklegung wurde es aus dem Verkehr gezogen – seine Thesen seien »antisowjetisch«,
hieß es. Im Grunde war das ein sehr milder Vorwurf, denn das Buch attackierte
nicht die sowjetische Geschichtsschreibung, sondern überhaupt jede etablierte
Geschichtsschreibung. Christi Geburt, schrieb Fomenko, lag nur ein knappes
Jahrtausend zurück. Thukydides war ein Chronist des Mittelalters, der
Peloponnesische Krieg nur ein anderer Ausdruck für die christlichen Kreuzzüge.
Das Alte Testament war erst nach dem Neuen Testament geschrieben worden. Die
Renaissance war keine Wiederbelebung der Antike – sie war die Antike.
Bei dem Publikationsverbot wäre es wohl geblieben, wenn nicht eine
Ironie der Geschichte das Blatt gewendet hätte. Während Fomenko versuchte, die
Zeit aus den Angeln zu heben, geriet sie plötzlich von selbst aus den Fugen.
Abrupt und unerwartet endete die sowjetische Ära. Bücher, die den Stempel
»antisowjetisch« trugen, kamen plötzlich in Mode, Fomenko profitierte von einer
Publikationswelle, die an die Oberfläche spülte, was vorher in den Giftkellern
gelegen hatte. Sein erstes Buch erschien 1990. Viele weitere folgten. Sie
fanden Leser. Fomenkos Thesen mochten wirr klingen, aber wirr waren auch die
Zeiten.
Ich beobachtete den Bleistift in Fomenkos rechter Hand,
der wie ein Dirigierstab das Auf und Ab seiner Sätze begleitet hatte. Jetzt
stand er still, Fomenko schwieg. An technisch komplizierten Stellen hatte er
den Stift benutzt, um erklärende Hilfslinien in die Luft zu zeichnen. Nun
schwebte zwischen uns eine unsichtbare Zeitleiste, deren Bleistiftumrisse
tausend Jahre zu kurz waren. Blinzelnd versuchte ich, mich mit diesem
chronologischen Monstrum anzufreunden. Es war nicht leicht. Ein einziger
Gelehrter des 16. Jahrhunderts sollte die komplette Weltgeschichte verzerrt
haben?
»Nein.« Fomenko schüttelte entschieden den Kopf. »Scaligers Irrtümer
sind nur ein Teil des Problems. Der andere Teil sind die gezielten
Geschichtsfälschungen, die vor seiner Zeit stattfanden.«
Spätestens jetzt betraten wir endgültig schwankenden Boden. Hinter
uns lag, was Fomenko als »wissenschaftlich gesicherten« Teil seiner
Erkenntnisse bezeichnete, vor uns das, was er »Interpretation« nannte. Der
Computer, erklärte er, habe die Geschichte nur nach statistischen Ähnlichkeiten
durchforsten können. Wie diese Parallelen zustande gekommen waren, hatte sich
Fomenko selbst zusammenreimen müssen. Er hielt sie für das Ergebnis gezielter
Manipulationen. Chroniken, die ursprünglich dieselben Ereignisse beschrieben,
waren im Nachhinein umgeschrieben worden, Jahre, mitunter Jahrhunderte nach
ihrer Entstehung. Man hatte Namen ausgetauscht und Jahreszahlen verändert, man
hatte die ursprünglichen Schilderungen derart entstellt, dass selbst ein Genie
wie Joseph Scaliger den Fälschungen auf den Leim gehen musste. Nur ein Computer
war in der Lage, unter den manipulierten Oberflächen solcher Texte die
identischen Grundstrukturen zu erkennen.
Warum aber sollte sich eine Spur aus Lügen durch die Geschichte
ziehen? Fomenko witterte hinter den Fälschungen eine alte Menschheitskrankheit:
die Sucht nach Vergangenheit. Sie befiel Völker und Nationen, Königshäuser und
Kirchen, wenn es darum ging, ein Territorium für sich zu beanspruchen, einen
Thron, einen Glauben, eine Kultur. Wer nachweislich vor allen anderen ein Land
bewohnt, ein Reich regiert, einem Gott gehuldigt, eine Sprache gesprochen hat,
der kann nicht gezwungen werden, diesen Besitz mit Neuankömmlingen zu teilen.
Wer Zukunft will, braucht Herkunft. Und Herkunft lässt sich vortäuschen.
Genau das, glaubte Fomenko, war mit den Chroniken geschehen.
Emporkömmlinge hatten durch Fälschungen wettgemacht, was ihnen an Geschichte
fehlte. Sie hatten ganze Chroniken umschreiben lassen, um ihre eigenen
Ursprünge weit zurück in die Vergangenheit zu datieren und ihre Widersacher zu
herkunftslosen Hochstaplern zu erklären. Nicht nur einzelne Herrscherdynastien,
ganze Völker und Nationen hatten sich so eine Vergangenheit angedichtet, die es
nur auf dem Papier gab. Fomenko hielt es für möglich, sogar für wahrscheinlich,
dass kein einziger der heutigen Nationalstaaten früher als an der Schwelle vom
16. zum 17. Jahrhundert entstanden war. Davor, das jedenfalls legten seine
Befunde nahe, waren sie lediglich Provinzen eines
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