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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Der Historiker
runzelte die Stirn. Mein lieber Anatolij Timofejewitsch, sagte er – nach allem,
was ich höre, sind Sie ein vielversprechender junger Mathematiker. Sie sollten
bei Ihren Zahlen bleiben. Von meinen Zahlen lassen Sie besser die Finger.
    Enttäuscht kehrte Fomenko zurück in die mathematische Fakultät. Und
beschloss, es selbst mit der Geschichte aufzunehmen.
    Wann hatte Thukydides gelebt? Die Geschichtsbücher sagten: im 5.
Jahrhundert vor Christus. Aber woher wusste man das? Als Fomenko mit dem
unbeteiligten Blick eines Mathematikers begann, Thukydides zu lesen, las er von
Ereignissen, die sich »viele Menschenalter nach dem Trojanischen Krieg«
zugetragen hatten oder »in der Zeit vor Hellen, dem Sohne Deukalions« oder »als
Chrysis achtundvierzig Jahre Priester in Argos war«. Alle Zeitangaben setzten
andere, nicht näher definierte Zeitangaben voraus, nirgends war ein neutraler
Nullpunkt zu entdecken. Fomenko las weiter, Homer und Herodot, Xenophon und
Cicero, er wühlte sich durch die gesamte Antike und fand überall das Gleiche:
Daten, die auf andere Daten verwiesen, die wieder und wieder auf andere Daten
verwiesen, alle Zeitangaben drehten sich ohne äußeren Bezugspunkt im Kreis, es
war ein mathematischer Albtraum. Während Fomenko weiter und weiter las, hatte er
zunehmend das Gefühl, vor einem riesigen, unüberschaubaren Haufen aus
Puzzlestücken zu stehen. Die Chronologie der Weltgeschichte bestand aus
winzigen Einzelteilen, denen ihre Position im Gesamtbild nicht anzusehen war.
Irgendjemand musste dieses gigantische Chaos geordnet haben, indem er die
Zeitangaben sämtlicher Chroniken Stück für Stück zusammengesetzt hatte. Aber
wer hatte das getan? Mit welchen Methoden? Und vor allem: wann?
    Fomenko sah mir in die Augen und machte eine kleine Kunstpause. Dann
benannte er den Schuldigen: »Scaliger.«
    Über Joseph Scaliger, einen französischen Gelehrten des 16.
Jahrhunderts, sagt man gemeinhin, dass er den europäischen Blick auf die Antike
erweiterte, indem er die Geschichte der Griechen und Römer mit der Geschichte
der Perser, Babylonier, Ägypter und Juden verknüpfte. Fomenko drückte es
radikaler aus: »Scaliger hat die erste zusammenhängende Chronologie der
Weltgeschichte entworfen. Leider hat er dabei alles falsch gemacht.«
    Von seinen Zeitgenossen wurde Scaliger für sein umfassendes
Gedächtnis bewundert, mit dessen Hilfe er die Puzzleteile der Weltgeschichte
zusammengefügt hatte. Für Fomenko aber war Scaliger in erster Linie ein Mensch.
Ein Mensch ist kein Computer, so umfassend sein Gedächtnis auch sein mag.
Fomenko hielt sich nicht für klüger als Scaliger, er war ihm bloß rechnerisch
überlegen. Sein Computer sagte ihm, dass Scaliger das Puzzle falsch
zusammengesetzt hatte – er hatte zu viele Teile hineingepresst. Irrtümlich
hatte der Franzose Chroniken, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln über
dieselben Ereignisse berichten, für Zeugnisse unterschiedlicher Epochen
gehalten. Folglich war ihm die Weltgeschichte zu lang geraten, viel zu lang.
Sie war rund eintausend Jahre länger als die Chronologie, die Fomenko selbst errechnete.
    Mitte der Siebzigerjahre begann er, seinen Computer mit historischen
Daten zu füttern. Er scharte ein kleines Forschungsteam um sich, mit dessen
Hilfe er Tausende von Chroniken in erzählerische Grundelemente zerlegte:
Abfolgen politischer Herrscher und kirchlicher Würdenträger, Kriege,
Volksaufstände, Naturkatastrophen, Epidemien, Missernten, Himmelserscheinungen,
religiöse Feste, technische Neuerungen, wirtschaftliche Reformen. Er
entwickelte ein statistisches Analyseverfahren, das nach erzählerischen
Parallelen zwischen einzelnen Chroniken suchte. Entdeckte der Computer
auffällige Ähnlichkeiten im Aufbau zweier Geschichtsdarstellungen, ging Fomenko
davon aus, dass die Chroniken dieselben Ereignisse beschrieben – unabhängig
davon, welcher Epoche und welchem Kulturkreis man die Texte gemeinhin
zuordnete.
    Es dauerte Jahre, bis sich das Chaos zu lichten begann. Fomenko
beklebte die Wände seines Arbeitskabinetts mit Din-A4-Blättern, auf denen er
seine Forschungsergebnisse festhielt. Bald zog sich eine lange Zeitleiste vom
einen Ende des Raums bis zum anderen, über und über beschriftet mit
hypothetischen Datierungen. Fomenko stellte Thesen auf, verwarf sie, stellte
neue auf, korrigierte sie, riss Blätter von der Wand, zerknüllte sie, klebte
neue an. Schritt für Schritt vervollständigte sich das Puzzle.
    Mitte der

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