Mein russisches Abenteuer
ich zögernd, »haben Sie sich die Pyramiden angesehen?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich war nie in Ägypten. Ich
vertrage keine Hitze.«
Ich nickte dümmlich.
Fomenko sprach weiter, er kam zurück auf die Fälschungen in den
Chroniken. »Manipuliert wird auch heute noch«, sagte er. »Sehen Sie sich an,
was in den ehemaligen Sowjetrepubliken geschieht, im Baltikum, in Georgien, in
der Ukraine. Die sowjetische Geschichte wird umgeschrieben, neue Länder
erfinden sich ihre eigene Geschichte. Wenn in ein paar hundert Jahren jemand
die heutigen Geschichtsbücher mit den sowjetischen vergleicht, wird er nicht
mehr begreifen, dass von derselben Epoche die Rede ist, vom selben Land.«
Ein Echo hing plötzlich im Raum. Zwei Weltreiche waren zerfallen,
das eine in ferner Vergangenheit, das zweite, die Sowjetunion, vor nicht einmal
zwanzig Jahren. Zweimal wurde Moskau entmachtet, zweimal Russland zerstückelt,
zweimal die Geschichte umgeschrieben. Suchte Fomenko, wenn er das eine Reich
beschwor, nur Trost für den Verlust des anderen? Wieder hatte ich Zweifel, was
bei seiner Theorie am Anfang gestanden hatte: Himmelsverdunkelungen der
Vergangenheit – oder der Gegenwart.
Ich fragte Fomenko, was aus den alten Zetteln geworden war, mit
denen er die Wände seines Arbeitszimmers beklebt hatte. Ich wollte die
ursprüngliche Zeitleiste sehen, die Theorie in Reinform.
»Die gibt es nicht mehr. Ich brauche sie nicht mehr. Das kann man
heute alles am Computer machen.«
»Sie haben nichts aufgehoben?«
Fomenko überlegte einen Moment. Dann stand er abrupt auf und öffnete
die Tür eines Wandschranks. Aus dem Inneren zog er etwas, das wie eine dicke
Tapetenrolle aussah.
»Damals, bevor ich die Zettel weggeworfen habe, habe ich die
Zeitleiste fotografiert und auf diese Plane drucken lassen.« Er lächelte, wie
man über die Sentimentalität eines guten Freundes lächelt. Dann legte er die
Kunststoffrolle an der Türseite des Raums auf den Boden. Er stellte den linken
Fuß auf ihr loses Ende, mit dem rechten versetzte er dem eingerollten Teil
einen Stoß. Knisternd entfalteten sich fünf Meter Weltgeschichte, bis die Rolle
an der gegenüberliegenden Seite des Raums gegen die Wand prallte. Sie war nicht
einmal zur Hälfte ausgerollt, das Zimmer war zu kurz für Fomenkos Vision. Aber
was auf dem Boden lag, reichte, um mir den Atem zu nehmen. Konkurrierende
Erzählstränge liefen in parallelen Bahnen von einem Ende des Raums zum anderen.
Kyrillische Buchstaben markierten Kernereignisse der Geschichte, deren
Reihenfolge allem widersprach, was ich je gelernt hatte. Die Zeit war aus den
Fugen.
Minutenlang starrten wir stumm die Plane an und wussten nicht mehr,
was wir sagen sollten.
Mir war leicht schwindlig, als ich schließlich allein im Treppenhaus
stand. Ich wartete auf den Lift, aber als er kam, entschied ich, lieber die
Treppe zu nehmen. An jedem Fenster verrenkte ich mir den Hals, um mir die
Ornamente der Universitätsfassade aus der Nähe anzusehen, deren bizarres
Stilgemisch Anleihen aus mehreren Jahrtausenden nahm.
Eines fernen Tages, stellte ich mir vor, würde ein archäologisches
Forschungsteam den Boden durchwühlen, auf dem einmal Moskau gestanden hatte.
Ein paar Meter unter der Erdoberfläche würden sie auf Überreste der
Lomonossow-Universität stoßen, und es würde ihnen nicht leichtfallen, dieses
seltsam aus der Zeit gefallene Bauwerk historisch einzuordnen. Dann aber würden
sie in den Trümmern auf etwas stoßen, das ihnen noch weit mehr Kopfzerbrechen
bereiten würde: Fomenkos Zeitrolle.
Ein Kessel Wasser ohne Kessel
In den Jahren 1652 und 1666 verdunkelten zwei
Sonnenfinsternisse den Himmel über Russland. »An die drei Stunden standen wir
am Ufer und weinten«, erinnert sich ein Zeuge an die erste von beiden. »Vollständig erloschen war die Sonne, und von
Abend her war der Mond gekommen, den Zorn Gottes verkündend. Und dies war auch
die Zeit, da Nikon, der Verräter, unseren Glauben und die kirchlichen Bräuche
schändete.«
Nikon war der Patriarch, mit dessen Liturgiereform im 17.
Jahrhundert das Blutbad der Kirchenspaltung begann. Einer seiner erbittertsten
Gegner, der altgläubige Erzpriester Awwakum, verlieh dem Streit um die korrekte
Fingerhaltung beim Bekreuzigen kosmische Dimensionen, als er 1673 seine
Lebenserinnerungen aufzeichnete. »Vierzehn Jahre später geschah dann abermals
eine Finsternis«, fährt Awwakum fort. »Die Sonne war erloschen, und wieder war
der Mond von Abend
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