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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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her gekommen, den Zorn Gottes verkündend; und dies war die
Zeit, da der Erzpriester Awwakum, der mit Mühsal beladene Dulder, mit dem
Bannfluch belegt und in den Kerker von Ugriescha geworfen wurde.«
    Wenige Jahre nach dem Verfassen dieser Zeilen starb Awwakum als
Märtyrer auf dem Scheiterhaufen. Das Letzte, was seine Anhänger von ihm sahen,
war seine brennende Hand, die bis in den Tod das Zwei-Finger-Kreuz geformt
haben soll. Überall in Russland sahen die Altgläubigen mit stummem Entsetzen
zu, wie man ihre Priester ermordete, einen nach dem anderen. Als schließlich
auch der einzige Bischof starb, der sich auf die Seite der Reformgegner
gestellt hatte, gab es niemanden mehr, der neue Priester weihen konnte.
Verzweifelt spielten die Altgläubigen mit dem Gedanken, mit der toten Hand des
Bischofs einen Nachfolger zu salben, aber theologische Skrupel hielten sie am
Ende davon ab. Damit war die Widerstandsbewegung zum Sterben verurteilt, im
wörtlichen wie im geistlichen Sinne – ohne Bischöfe keine Priester, ohne
Priester keine Sakramente, ohne Sakramente keine Seelenrettung.
    Während die Altgläubigen ratlos ihr Schicksal diskutierten, zerfiel
ihre Gemeinschaft in zwei Strömungen. Die einen hielten die letzte Zeit für
angebrochen. Die Kirche war dem Antichrist in die Hände gefallen, und wer seine
Seele retten wollte, musste fortan ohne Kirche leben. Die »Priesterlosen«, wie
man diesen Teil der Altgläubigen bald nannte, ließen die Welt hinter sich und
flohen in die sibirische Wildnis, wo sie in weitere, immer radikalere
Strömungen zerfielen, die sich die Sakramente entweder gegenseitig spendeten
oder ganz auf sie verzichteten. Aus dieser, der kompromissloseren Tradition,
stammte Agafja Lykowa, die Einsiedlerin, zu der meine Reise führen sollte.
    Für den gemäßigteren Teil der Altgläubigen war ein Leben ohne Kirche
nicht denkbar. Ihr Überleben sicherten sie in der ersten Zeit nach der
Spaltung, indem sie Priester aus der Patriarchatskirche abwarben. Die Methode
erforderte Beziehungen, nicht selten auch Geld. Beide Gründe zwangen sie, näher
an der Zivilisation zu leben als ihre sibirischen Brüder und Schwestern. Im
Lauf der Jahrhunderte wich die Todfeindschaft zwischen ihnen und der
Patriarchatskirche einem Verhältnis der Duldung, auch wenn die gegenseitigen
Bannflüche nie aufgehoben wurden. Einzelne Altgläubigengemeinden siedelten sich
sogar wieder in den Städten an.
    Zu einer von ihnen, die bis in die Moskauer Gegenwart überlebt
hatte, war ich an einem eisigen Märztag in einem Trolleybus unterwegs.
    Ich wusste nicht, was mich erwartete. Der Rogoschskoje-Friedhof, das
Ziel meiner Reise, lag in einem toten Winkel der Hauptstadt, ein Stück östlich
der großen Moskauer Umgehungsstraße, eingekeilt von Eisenbahnbrücken und
Industrieanlagen. Hier, knapp hinter der historischen Stadtgrenze, hatte
Katharina die Große den Altgläubigen 1771 ein Stück Land zugebilligt – eine
Geste im toleranten Geist der westeuropäischen Aufklärung, den die Zarin so
liebte, wie die Altgläubigen ihn hassten. Ich wusste, dass die Gemeinde in den
folgenden Jahrhunderten mehrfach verboten und wieder zugelassen worden war, dem
Schlingerkurs der russischen Geschichte folgend. Aber ich hatte keine Ahnung,
in welchem Zustand sie die sowjetische Ära durchgestanden hatte.
    Ein Glockenturm wies mir den Weg von der Bushaltestelle zum
Friedhof. Er war mit ramponierten Baunetzen umwickelt, seine freistehende
Silhouette sah aus wie ein bandagierter Finger. Sein langer Schatten wies auf
das Friedhofsportal. Ein paar flache Gemeindebauten umgaben den Turm, überragt
von einer Kirche, aus der schwaches Licht drang. Obwohl Fußspuren den Schnee in
alle Richtungen durchzogen, wirkte das Gelände wie ausgestorben. Erst auf dem
Friedhof begegneten mir einzelne Menschen, alte Frauen in Kopftüchern und
langen Röcken, Männer mit monumentalen Bärten. Sie mieden meine Blicke.
    Ohne große Hoffnung betrat ich die Kirche. Die Geschichte hatte die
Altgläubigen gelehrt, allem Ausländischen zu misstrauen, und mein ausländisches
Hirn sagte mir, dass sie für mich keine Ausnahme machen würden.
    Im Eingangsbereich fing mich eine alte Frau ab. »Sind Sie ein wahrer
Christ?«
    Verneinend schüttelte ich mein bartloses Kinn. Leugnen war zwecklos.
    Mit dem Zeigefinger zeichnete die Frau eine unsichtbare Linie vor
meine Füße. »Nicht den Kirchenraum betreten. Nicht sprechen. Nicht fotografieren.
Nichts anfassen. Nicht

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