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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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einzigen, weltumspannenden
Reichs gewesen, dessen Spuren gezielt verwischt wurden, als neue Machthaber die
Einzelteile des zerfallenen Imperiums auflasen und ihnen eine eigene, nationale
Vergangenheit andichteten.
    Ich wurde hellhörig. Fomenkos Argumentation hatte plötzlich eine
völlig neue Richtung eingeschlagen. Damals, in Berlin, als Juri mir zum ersten
Mal von Fomenko erzählt hatte, war mir seine Zersplitterung der Weltgeschichte
beliebig vorgekommen, wie das Werk eines manischen Mathematikers, den allein
sein rechnerischer Instinkt leitet. Jetzt, wo Fomenko die Geschichte vor meinen
Augen neu zusammensetzte, sah ich plötzlich Muster, die mir vorher entgangen
waren. Sein Wahn hatte Methode. Während er sprach, wurde Russland vor meinen
Augen ein anderes, ein besseres Land – es warf die Lügen der Jahrhunderte ab
und strahlte. Nicht spät, wie alle fälschlich glaubten, war Russland in die
Weltgeschichte eingetreten, sondern früh – es musste sich nicht schämen vor den
alten europäischen Kulturen. Auch war es nicht von einem Wikingerstamm
gegründet worden – das war eine Legende, die im 17. Jahrhundert das Haus
Romanow in die Welt gesetzt hatte, um dem ausgestorbenen Zarengeschlecht der
Rurikiden den Ruch einer ausländischen Besatzungsmacht zu geben. Zum
Christentum konvertiert war Russland nicht ein knappes Jahrtausend nach
Christus, sondern kurz nach der Kreuzigung – nicht später als die anderen
Völker Europas, sondern vor ihnen, früher noch als die Römer. Auch die
demütigende, jahrhundertelange Unterwerfung durch die Mongolen hatte es nie
gegeben, im Gegenteil, die Mongolen waren Söldner im Dienste des Kremls
gewesen, mit ihren Reiterhorden hatte Russland die Welt beherrscht – denn das
Machtzentrum jenes geheimnisvollen Weltreichs, dessen Spuren an der Schwelle
vom 16. zum 17. Jahrhundert so sorgfältig verwischt worden waren, war Moskau
gewesen. Mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit jedenfalls.
    Während Russland vor meinen Augen größer und größer wurde, wuchsen
auch meine Zweifel. Fomenkos ganze Theorie, ihre Herleitung aus einem
astrophysischen Problem, ihre unbestechlichen statistischen Methoden, all das
wirkte plötzlich wie ein Mittel zum Zweck. Hatte er sich die ganze
mathematische Vorgeschichte nur ausgedacht, um Russland strahlen zu lassen?
Schnell verwarf ich die These. Fomenkos Blick auf die Geschichte mochte Motive
haben, die er sich selbst nicht eingestand, aber wie ein Hochstapler wirkte er
nicht, dafür war er zu überzeugt von seiner Mission. Er war ein einsamer
Kopernikus, der gegen die Irrtümer der Jahrhunderte anrannte. Dass die
akademische Welt über ihn lachte, war ihm gleichgültig – eines Tages würde
ihnen das Lachen vergehen, dann würde nur noch er lachen.
    Gegen Einwände war er immun. Als ich ihn nach den herkömmlichen
Datierungsmethoden fragte, die seinen Thesen so offensichtlich widersprachen,
wischte er sie beiseite wie lästige Fliegen. Kohlenstoffdatierung, die chemische
Analyse archäologischer Fundstücke? »Unzuverlässig.« Dendrochronologie, die
Auswertung von Jahresringen in Holzmaserungen? »Grob.« Numismatik, die
zeitliche Einordnung von Münzen? »Fehleranfällig.« Ich zog die letzte Karte aus
dem Ärmel – was war mit der guten alten Archäologie? Fomenko seufzte.
»Archäologie ist die trügerischste Datierungsmethode von allen. Der ganze
Forschungsbereich ist vergiftet von Scaligers Chronologie. Jedes ausgegrabene
Fundstück bestätigt den Archäologen nur, was sie schon zu wissen glauben. Sie
können nicht unabhängig denken.«
    Er hob den Bleistift und zeichnete einen dreieckigen Umriss in die
Luft.
    »Nehmen Sie die ägyptischen Pyramiden. Dass ein Volk ohne alle
technischen Hilfsmittel riesige Steine durch die Wüste bewegt haben soll, ist
undenkbar. Jeder weiß, dass es undenkbar ist. Auch die Archäologen wissen es,
deshalb erfinden sie seit Jahrhunderten immer neue, immer fantastischere
Erklärungen. Dabei ist die Lösung ganz einfach.« Wieder machte er eine seiner
Kunstpausen, bevor er das Rätsel auflöste. »Beton.«
    Fragend sah ich ihn an.
    »Künstliche Steine, vor Ort hergestellt. Die Pyramiden wurden aus
Fertigbauteilen zusammengesetzt. Nicht in der Antike, sondern in der Neuzeit.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Bis zu diesem Punkt war es
mir nicht schwergefallen, meine inneren Zweifel zurückzustellen und seiner
Argumentation zu folgen. Die Pyramiden aber waren schwer zu schlucken.
    »Und«, fragte

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