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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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hob nur einen fleischigen
Finger und zeigte auf den Lift. »Sechster Stock.«
    Der Mann, der mir im sechsten Stock die Tür öffnete, hatte die
buschigsten Augenbrauen, die ich je gesehen hatte. In wirren grauen Büscheln
umrankten sie den Metallrand seiner Physikerbrille. Vor mir stand Anatolij
Timofejewitsch Fomenko, Professor für höhere Geometrie und Topologie,
Vollmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Gebieter der
Geschichte.
    Er lotste mich ins Wohnzimmer. An den Wänden hingen Ölgemälde und
Bleistiftzeichnungen, die ich sofort wiedererkannte: Es waren die
selbstgemalten Fantasielandschaften, die ich Jahre zuvor in Juris
Videoaufnahmen gesehen hatte. Zerfließende Uhren, tanzende Zahlenkolonnen,
Berge aus Totenschädeln. Unwillkürlich musste ich an Heavy-Metal-Plattencover
denken.
    Fomenko bemerkte meine Blicke. Lächelnd deutete er auf die Bilder.
»Alt, alles alt.«
    »Sie malen nicht mehr?«
    Seine Antwort klang ungewollt sibyllinisch: »Die Zeit reicht nicht.«
    Wir setzten uns an den Wohnzimmertisch. Hinter den Fenstern lag
Moskau, ein Schwarz-Weiß-Gemälde aus Schnee und Beton. Zwei Sträuße Lilien
standen auf dem Tisch, einer weiß, der andere rosa, Überbleibsel von Fomenkos
65. Geburtstag, den er wenige Tage zuvor gefeiert hatte. Fomenko schob die
Blumen brüsk zur Seite, sie versperrten ihm die Sicht. Ähnlich unsentimental
hatte er einst die Weltgeschichte beiseitegefegt, auch sie stand ihm im Weg.
    Die Geschichte, die er nun vor mir ausbreitete, begann in den frühen
Siebzigerjahren. Fomenko, damals noch ein blutjunger Akademiker, erforschte
mathematische Aspekte der Himmelsmechanik. Eher zufällig stieß er auf ein
Paradox, das kurz zuvor ein amerikanischer Astrophysiker aufgeworfen hatte, ein
Mann namens Robert Newton. Der amerikanische Kollege war beim Studium der
Mondbewegung auf rätselhafte historische Schwankungen gestoßen: Seine Befunde
legten nahe, dass sich der Mond erst seit etwa vierhundert Jahren mit
gleichbleibender Geschwindigkeit bewegte. Davor schien er in unregelmäßigen
Abständen sprunghaft das Tempo gewechselt zu haben. Weil das nicht sein konnte,
Newton aber auch keinen Fehler in seiner Berechnung fand, stellte er das
»Newton’sche Paradox« zur Debatte.
    Auch Fomenko fand keinen Fehler. Aus mathematischer Sicht war
Newtons Formel einwandfrei, das Problem musste anderswo liegen. War
möglicherweise das historische Datenmaterial fehlerhaft, das der amerikanische
Kollege verwendet hatte? Newton hatte geschichtliche Datierungen von Sonnen-
und Mondfinsternissen benutzt, wie sie in historischen Chroniken auftauchen.
Als Fomenko sich in das Thema einlas, stieß er auf das vergessene Buch eines
russischen Forschers, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts kritisch mit solchen
Datierungen auseinandergesetzt und alternative Zeitangaben errechnet hatte.
Versuchsweise setzte Fomenko diese Daten in Newtons Mondgleichung ein. Sofort
verschwanden die unerklärlichen Geschwindigkeitsschwankungen. Gleichmäßig zog
der Mond seine Bahn durch die Jahrtausende.
    Damit aber fingen die wirklichen Probleme erst an. Die alternativen
Datierungen wichen von den herkömmlichen nicht um ein paar Tage ab, sondern um
Jahrhunderte. Die drei Himmelsverdunkelungen etwa, die der griechische
Historiker Thukydides in seiner »Geschichte des Peloponnesischen Krieges«
beschreibt, hatte der russische Forscher nicht dem 5. Jahrhundert vor Christus
zugerechnet, sondern dem 11. nachchristlichen Jahrhundert. Begreiflicherweise
hatten seine Zeitgenossen ihn für einen Wirrkopf gehalten. Nicht so Fomenko,
dem die Thesen plausibel vorkamen. Bloß warfen sie Fragen auf, die kein
Mathematiker beantworten konnte. Wie hatte Thukydides Himmelserscheinungen des
Mittelalters beschreiben können? Und wenn seine Sonnenfinsternisse erst im 11.
Jahrhundert stattgefunden hatten, galt das dann auch für den Peloponnesischen
Krieg?
    Fomenko hatte sich nie mit Geschichte beschäftigt. Aber die
historische Fakultät seiner Universität war nur ein paar Flure entfernt. Eines
Tages klopfte der Mathematiker an die Tür eines Historikers. Er trug sein
Problem einem weißhaarigen Wissenschaftler vor, der sich Fomenkos
astrophysische Thesen mit höflichem Desinteresse anhörte. Junger Mann, sagte
der Historiker, als Fomenko fertig war – das ist ja alles hochinteressant, aber
was habe ich damit zu tun? Fomenko nahm all seinen Mut zusammen: Meine Thesen,
sagte er, stellen die Grundlagen Ihres Forschungsgebiets in Frage.

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