Mein russisches Abenteuer
drang aus den Büchern, regalweise raunten sie
ihre Gerüchte in den Raum. Viele Titel suchten Linderung für das Trauma des
sowjetischen Zusammenbruchs, andere gruben tiefer in der Vergangenheit.
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Mitten in diesem Wust aus Verschwörungstheorien entdeckte ich
plötzlich einen vertrauten Namen: Anatolij Fomenko. Ich hatte ihn fast
vergessen – es war der geschichtsbesessene Mathematiker, der mir Jahre zuvor in
Juris Dokumentarfilm begegnet war. Verblüfft sah ich mir seine Bücher näher an.
Damals in Berlin hatte ich den Mann für einen obskuren Akademiker gehalten,
dessen Thesen in Universitätskorridoren verhallen, ohne viel Gehör zu finden.
Das war offenbar ein Irrtum. Fomenkos Bücher füllten ein komplettes Regalbrett.
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Am nächsten Tag machte ich mich auf die Suche nach Anatolij Fomenko.
Ich wollte begreifen, was ihn dazu trieb, die Weltgeschichte in Stücke zu
hacken. Leicht zu finden war er nicht. Er lehrte Mathematik an der Moskauer
Lomonossow-Universität und war Mitglied der Russischen Akademie der
Wissenschaften, aber in beiden Institutionen war man nicht gut auf ihn zu
sprechen. Wen ich auch fragte, die Reaktionen waren eindeutig. »Erwähnen Sie
diesen Namen nicht in meiner Gegenwart«, zischte eine Archäologin. Sie hatte
ihr ganzes Berufsleben damit verbracht, altslawische Inschriften auf
Birkenrinden zu entziffern, die Fomenko als neuzeitliche Fälschungen abtat.
»Jedes einzelne Wort, das dieser Mann je geschrieben hat, ist haarsträubender
Unsinn«, donnerte ein Byzantinist. Er untersuchte den Einfluss der griechischen
Kultur auf die russische, den es laut Fomenko nie gegeben hatte.
Vorsichtig fragte ich den Byzantinisten, wie er sich Fomenkos
Popularität erklärte. Ich erwähnte die Bücher, die ich inzwischen in mehr als
einer Moskauer Buchhandlung gesehen hatte.
»Ganz einfach«, seufzte der Mann. »In diesem Land glaubt niemand
mehr an irgendwas, und schon gar nicht an die Vergangenheit. Unsere Geschichte
ist zu oft umgeschrieben worden. Die Menschen vertrauen den Historikern nicht,
weil sie in der Sowjetzeit nur dafür zuständig waren, die Vergangenheit im
Sinne der Machthaber zurechtzubiegen. Es gibt in diesem Land keinen
historischen Konsens mehr, jeder hält alles für möglich. Die Leute lesen
Fomenko, weil er ausspricht, was alle denken: dass unsere komplette Geschichte
erfunden und erlogen ist.«
Als ich den Byzantinisten fragte, ob er Fomenkos Telefonnummer habe,
starrte er mich entgeistert an. »Sind Sie verrückt? Natürlich nicht!« Etwas
milder fügte er hinzu: »Aber er ist leicht zu finden. Er wohnt in der
Lomonossow-Universität.«
»Sie meinen, er lebt auf dem Campus?«
»Nein. Er wohnt im Hauptgebäude.«
Jetzt starrte ich ihn entgeistert an. Ich kannte die Universität.
Jeder in Moskau kennt sie, ihre kathedralenartige Silhouette überragt die Stadt
wie das Bühnenbild eines realsozialistischen Vampirfilms. Sie ist der größte
von sieben Moskauer Wolkenkratzern, für die Stalin nach dem Krieg ganze
Stadtviertel freibomben ließ. Ich wusste, dass in ihren verschachtelten Trakten
semesterweise Studentenzimmer vermietet werden, aber dass jemand permanent in
diesem sowjetischen Spukschloss lebt, konnte ich mir nicht vorstellen. Vor
meinem inneren Auge sah ich Fomenko im Mondschein über die Dächer tanzen,
umflattert von Fledermäusen schrie er Jahreszahlen in die Nacht, ein russischer
Graf Zahl, eng verwandt mit dem zählwütigen Vampir aus der Sesamstraße.
Ein paar Tage später stand ich bei Tageslicht vor dem
Universitätsgebäude. Am Ende war ich auf die naheliegende Idee gekommen, Juri
in Berlin anzurufen – er hatte mir Fomenkos Nummer gegeben. Am Telefon wirkte
der Mathematiker verblüffend zugänglich. Nach einem kurzen Gespräch hatte er
mich in seine Wohnung eingeladen.
Eine halbe Stunde lang umrundete ich bei eisiger Kälte das
gigantische Universitätsgebäude, auf der Suche nach Block G, der nicht
auftauchen wollte. Ich spürte meine Finger kaum noch, als ich endlich den
richtigen Eingang fand. Im überheizten Foyer saß eine dicke Rezeptionistin
zwischen tropischen Topfpflanzen. Ausdruckslos starrte sie auf ihren Fernseher.
Sie sah nicht auf, als ich nach Fomenko fragte, sie
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