Mein russisches Abenteuer
telefonieren.«
Sie kehrte mir den Rücken und verschwand im Dunkel des
Kirchenschiffs. Es gab kein elektrisches Licht. Vor einzelnen Ikonen brannten
Kerzen, aber sie erhellten den Raum nur punktweise. Geflüsterte Gebete lagen in
der Luft. Am anderen Ende des Raums erkannte ich die Silhouette eines knienden
Mannes, der sich wieder und wieder vor einer Ikone verneigte. Jedes Mal, wenn
er den Oberkörper nach vorne warf, schnellte sein geisterhaft verlängerter
Schatten wie ein Uhrpendel durch das Mittelschiff.
Als ich die Kirche verließ, fiel mir ein Mann auf, der einsam vor
einem der Gemeindehäuser stand. Er trug einen schweren Wollanzug und ein Hemd,
das bis oben hin zugeknöpft war, obwohl die Krawatte fehlte. In der Hand hielt
er eine Plastiktüte. Reglos stand er im Schnee, als warte er auf irgendetwas.
Ich weiß nicht, warum er mir zugänglicher vorkam als die anderen Altgläubigen –
vielleicht, weil sein Bart vergleichsweise kurz war, vielleicht, weil er so
beschäftigungslos dastand. Als ich auf ihn zuging, wandte er mir die Augen zu.
Sie waren wie der Winterhimmel – bleichblau und unendlich weit von der Erde
entfernt. Erst dachte ich, er sei blind. Aber dann nickte er mir zu. Und begann
zu reden. Und hörte nicht mehr auf.
»… ich soll warten, haben sie gesagt, aber ob ich eine Stunde warte
oder drei oder den ganzen Tag, ist ihnen egal. Was sind das für Priester, frage
ich. Menschen sind ihnen gleichgültig, sie denken nur an ihr Geld, an sonst
nichts. Hast du ihre Autos gesehen? Woher kommt das Geld, frage ich. Seit
Jahren ist der Glockenturm eingerüstet, aber es passiert nichts. Wo ist das
Geld geblieben, frage ich. Misch dich nicht ein, sagen sie, stell dich nicht
über die Priester. Seit drei Stunden stehe ich jetzt hier …«
Während er redete, wurde ich das Gefühl nicht los, ihm schon einmal
begegnet zu sein. Erst nach einer Weile begriff ich, warum: Der wirre Bart, die
gespenstischen Augen, der Leidensmonolog – er war der fleischgewordene Held
eines Dostojewskij-Romans. Ohne mich zu kennen, ohne auch nur meinen Namen zu
wissen, schüttete er mir sein blutendes Herz aus. Jede seiner Gesten und
Grimassen sprach von inneren Qualen, die ungefiltert nach außen drangen.
»… sie haben einen Spitzel auf mich angesetzt. Und wenn ich schlecht
über die Priester rede, sagt er es sofort weiter. Kommunisten sind sie, im
Grunde ihres Herzens sind sie alle Kommunisten, sie haben ihre Parteibücher
weggeworfen und sind Priester geworden …«
Beim Sprechen griff er immer wieder in seine Plastiktüte, um mir
rätselhafte Dokumente zu zeigen, die er lange in den Händen wendete, bevor er
sie wieder verschwinden ließ. Zuerst sein Pass: Wladimir Wladimirowitsch
Semjonow, geboren 1961 in Donezk. Es folgte ein Hundezüchterdiplom, dann das
vergilbte Programm eines Dressurwettbewerbs, an dem Wladimir mit seiner
Schäferhündin teilgenommen hatte. Ein ärztliches Attest, eine Bahnfahrkarte
nach Rostow am Don, ein paar Briefe unklarer Herkunft. Zuletzt eine
zerfledderte Broschüre: »Verfassung der Russischen Föderation«. Wladimir schlug
sie auf und las mir Artikel 2 vor: »Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten
bilden die höchsten Werte.« Angewidert stopfte er das Heft zurück in die Tüte.
»Nur auf dem Papier!« Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass die
Plastiktüte Wladimirs gesamten Besitz enthielt. Er war obdachlos.
Ich wurde nicht schlau aus ihm. War er verrückt? Oder nur einsam,
menschlich verwahrlost? Was er erzählte, klang wirr, aber nicht dumm. Seine
irrlichternden Augen schienen mehr wahrzunehmen, als man ihnen zutraute. Aus
den wenigen Sätzen, die ich einwarf, hörte er meine Herkunft heraus, und sofort
begann er, deutsche Wörter in seine Sätze zu streuen: Freundschaft … Deutschmark … Gott …
Sein Wissen über die Altgläubigen war verblüffend, so verknotet es
ihm auch über die Zunge ging. Über ihre Geschichte wusste er alles, vermutlich
ohne je ein Buch gelesen zu haben. Von ihm erfuhr ich, wie die Moskauer
Altgläubigen es geschafft hatten, eine eigene Kirchenhierarchie aufzubauen, mit
einem eigenen Metropoliten an der Spitze: Mitte des 19. Jahrhunderts war es
ihnen gelungen, einen griechisch-orthodoxen Bischof von den Vorzügen des
Zwei-Finger-Kreuzes zu überzeugen.
»… sie sagen: Der Metropolit ist näher bei Gott als du, er steht
über dir, wie kannst du ihn kritisieren? Aber was ist das für ein Metropolit,
der den Armen nicht hilft? Seit Stunden
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