Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
nautische
Positionsbestimmungen klangen: Markus 7,19 – Römer 14,17 – Genesis 9,3.
    Ich unterdrückte ein Gähnen. Gleb war nicht unsympathisch, aber je
länger ich seinen geordneten Überlegungen zuhörte, desto verklärter wurde meine
Erinnerung an Wladimir. Vielleicht war er verrückt, vielleicht hatte sich in
seinem Wahn aber auch nur etwas von den chaotischen Ursprüngen der Altgläubigen
erhalten, ein anarchischer Absolutheitsanspruch, der in der theologisch
gefestigten Gegenwart nicht mehr vorkam. Wladimir war der sinnsuchende
Gottesnarr, Gleb das Putzkommando des Heilands. Wahrscheinlich war mein Urteil
unfair in beide Richtungen, aber ich konnte mir nicht helfen – eine lästerliche
Zuneigung zog mich zu Wladimir.
    Er erhörte meine Gebete. Plötzlich stand er mitten im Zimmer. Sofort
setzte sein wirrer Monolog wieder ein. Er schien mich gesucht zu haben.
    »… die Kirche, ich muss ihm die Kirche zeigen. Sie sagen: Er darf
die Kirche nicht betreten, er ist Ausländer, er ist keiner von uns, aber
welches Recht haben sie …«
    Gleb schwieg. Er wirkte genauso angespannt wie vorher der
Metropolit. Wladimir schien das schwarze Schaf der Gemeinde zu sein.
    »… ich habe mit Vater Viktor gesprochen, er ist einverstanden, er
will ihn durch die Kirche führen, wir können jetzt gleich …«
    Fragend sah ich Gleb an. Er nickte ratlos. »Wenn Vater Viktor
einverstanden ist …«
    Wladimir schob mich aus dem Raum. In fiebriger Eile hastete er über
das Gemeindegelände, mit beiden Händen umklammerte er meinen Oberarm. Neben der
Kirche hämmerte er an die Tür einer flachen Backsteinbaracke.
    »Vater Viktor! Vater Viktor!«
    Stille. Dann eine genervte Bassstimme. »Was ist? Ich esse!«
    »… die Kirche, Vater Viktor, die Kirche will ich ihm zeigen …«
    Ein bärtiger Hüne riss die Tür auf. Bevor ich etwas sagen konnte,
fing er an zu brüllen. »Dann zeig ihm doch die Kirche! Was geht mich das an?«
Dröhnend fiel die Tür ins Schloss.
    Wladimir zögerte nicht lange. Er umklammerte meinen Arm und schob
mich in Richtung Kirche.
    »… er ist rasiert, sagen sie, er darf nicht in die Kirche, er ist
ein Ungläubiger …«
    Drinnen verstellten uns zwei alte Frauen den Weg. Wladimir
ignorierte ihr Schimpfen und zerrte mich ins dunkle Mittelschiff, vorbei an den
aufgerissenen Augen gemalter Heiliger und entsetzter Altgläubiger. Ich fühlte
mich wie ein Eindringling, aber Wladimir war nicht aufzuhalten. Vor einer
riesigen Ikone blieb er stehen. In der Dunkelheit erkannte ich einen thronenden
Christus, unter dessen richtenden Händen die Welt zerfiel: links der Himmel,
rechts die Hölle.
    »… niemand wird ihm entgehen, am wenigsten die, die sich für
Gerechte halten …«
    Wladimir zitterte. Und plötzlich verstand ich. Das Jüngste Gericht
hatte begonnen. Wladimir lebte nicht in der Vergangenheit, sondern in der
Zukunft, am Ende der Zeit. Jeden Moment konnte alles vorbei sein, deshalb war
er so fiebrig, so hektisch, deshalb konnte er die Unzulänglichkeiten seiner
Kirche nicht hinnehmen.
    »… sie denken, sie sind schon gerettet, aber sie begreifen gar
nichts …«
    Später, als wir uns draußen verabschiedeten, erzählte ich ihm von
meiner Reise, von Sibirien, von der Einsiedlerin.
    »Sie leben anders dort, die Altgläubigen«, sagte er. »Sie sind
klüger als wir. Sie haben keine Priester.«
    Ein Rubel-Schein fiel in den Schnee. Ich hatte ihn in Wladimirs
Plastiktüte stecken wollen, aber er hatte meine Hand weggeschoben.
    Auf dem Weg zum Bus drehte ich mich noch einmal um. Ich suchte die
Schneefläche ab und entdeckte Wladimirs Silhouette am Fuß des Glockenturms. Er
stand reglos da, als warte er auf irgendetwas.
     
    Es begann zu schneien, als der Trolleybus die
Umgehungsstraße erreichte. Dicke Flocken umtanzten die Straßenlaternen wie ein
arktisches Mottengeschwader. Spontan fuhr ich zum Roten Platz – es gibt kein
russischeres Bild als den Roten Platz bei Schneegestöber.
    Lückenloses Weiß bedeckte die Pflastersteine. Ein einsamer Hund
jagte Schneeflocken. Die Wachleute vor dem Lenin-Mausoleum starrten in die
Nacht, auf ihren Mützen hatten sich kleine weiße Hügel angesammelt.
Schneeschwaden trieben über dem Kreml, vom Scheinwerferlicht in grelle Keile
zerhackt. Die Kirchenkuppeln, in deren blanken Oberflächen sich an klaren Tagen
ganz Moskau als zwiebelförmig verzerrtes Panorama spiegelt, hingen jetzt blind
und stumpf im Himmel. Was war übrig vom Anspruch dieses Kirchenensembles,

Weitere Kostenlose Bücher