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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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stehe ich hier, ich brauche Geld, nicht
viel, für ihn ist es nichts, für mich ist es alles. Da … da kommt er … du musst
mit ihm sprechen …«
    Seine Augen fixierten einen Punkt hinter meinem Rücken. Ich drehte
mich um. Eine Prozession von Klerikern verließ das Gemeindehaus. Wladimir griff
nach meiner Schulter und schob mich auf einen Mann zu, dem der schneeweiße Bart
bis zum Gürtel reichte. Irritiert sah der Mann uns an. Erst als ich den
Bischofsstab in seiner Hand bemerkte, begriff ich, wer vor mir stand: Seine
Exzellenz Kornilij, Metropolit von Moskau und ganz Russland, das geistige
Oberhaupt der Altgläubigen. Ratlos stammelte ich meinen Namen und streckte die
rechte Hand aus. Ein Raunen ging durch die Reihen der Kleriker, halb brüskiert,
halb belustigt. Ich begriff meinen Fehler und wollte gerade die Hand
zurückziehen, als Seine Exzellenz mit einem nachsichtigen Lächeln nach ihr
griff. Von rechts redete Wladimir auf uns ein, von links tauchten plötzlich
zwei alte Frauen auf, die sich vor dem Metropoliten in den Schnee warfen und
mit wimmernden Stimmen zu beten begannen. Die Kleriker rangen sichtlich um
Fassung, der Metropolit entzog mir die Hand und segnete die alten Frauen,
Wladimir redete atemlos weiter, während ich mich fragte, ob ich je in einer
absurderen Situation gewesen war.
    Als sich das Chaos gelegt hatte, stellte der Metropolit mir ein paar
höfliche Fragen, bevor er mich an einen seiner Untergebenen verwies. Die
Prozession setzte ihren Weg fort, gefolgt von Wladimir.
    Ein junger Mann namens Gleb blieb mit mir zurück. Er führte mich in
eins der Gemeindehäuser. In seinem Büro rückte er einen zweiten Stuhl an den
Schreibtisch, dann setzte er Teewasser auf und sah mir in die Augen.
    »Was wollen Sie wissen?«
    Der missglückte Start überschattete unser Gespräch, es verlief zäh.
Höflich, aber mit merklichem Misstrauen beantwortete Gleb meine Fragen, er
schien sich unwohl zu fühlen. Seine breiten Hände waren ständig in Bewegung, er
stellte Gebäck auf den Tisch, hängte Teebeutel in zwei Gläser, goss Wasser auf.
Mein Blick blieb an den Teebeuteln hängen.
    »Earl Grey«, las ich halblaut.
    »Mögen Sie lieber grünen Tee?«
    »Nein, schwarz ist gut. Ich dachte nur …« Ich brachte den Satz nicht
zu Ende. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Altgläubige nichts trinken, was nicht
auf russischem Boden wächst, aber der Einwand kam mir pedantisch vor.
    Gleb erriet meine Gedanken. »Unsere Vorfahren haben keinen Tee
getrunken. Wir schon. Die Zeiten ändern sich.«
    Für einen Altgläubigen war das ein bemerkenswerter Satz. Aber er
galt, wie mir schnell klar wurde, nur für Dinge wie Tee oder Glebs erkennbar
gestutzten Kinnbart, nicht aber für den Kern des Glaubens. Die alten
liturgischen Formeln – zwei Hallelujas, sieben Altarbrote –
standen unverrückbar im Strom der Zeit, sie schieden die Altgläubigen noch
immer von den »Nikonianern«, wie Gleb alle Angehörigen der Patriarchatskirche
nannte. Er sprach mit der nachsichtigen Geduld eines Lehrers, während ich mehr
und mehr in die Rolle des begriffsstutzigen Schülers rutschte.
    Gleb deutete auf seinen Schreibtisch.
    »Sehen Sie den Wasserkocher?«
    Ich nickte.
    »Man könnte sagen: Wasser ist Wasser, egal, ob es sich in einem
Gefäß befindet oder nicht. Aber wenn man den Kocher entfernt, geht das Wasser
verloren. Ohne Form zerfließt der Inhalt. Ein Glaube ohne Form ist wie ein
Kessel Wasser ohne Kessel.«
    Ich überlegte einen Moment. »Aber ist es nicht egal, wie der Kessel
aussieht, solange er das Wasser festhält? Bleibt ein Kreuz nicht ein Kreuz,
egal, wie man die Finger hält?«
    Ziemlich unerwartet hob Gleb die rechte Hand und streckte mir seinen
Mittelfinger ins Gesicht.
    »Ist das ein Kreuz?«
    Irritiert schüttelte ich den Kopf.
    »Sehen Sie?«
    Ich nickte. Das Argument war so drastisch wie einleuchtend.
    Ein rechtfertigender Ton schlich sich in Glebs Stimme, als er mir
erklärte, warum die Altgläubigen heute neben handschriftlichen Büchern auch
gedruckte akzeptierten und wie sie es geschafft hatten, den Gebrauch von
Computern mit ihren Dogmen in Einklang zu bringen. Es klang nach theologischen
Taschenspielertricks, aber mir war klar, dass solche Fragen hier über Erlösung
und Verdammnis entschieden – die Computer standen jetzt nicht mehr zwischen den
Altgläubigen und der Ewigkeit. Argumentierend umschiffte Gleb die Klippen der
modernen Welt. Jedes Manöver begründete er mit Bibelstellen, die wie

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