Mein russisches Abenteuer
das
einst als »drittes Rom« erbaut worden war, nachdem das echte Rom und sein
Nachfolger Byzanz gescheitert waren? »Ein viertes wird es nicht geben«,
flüsterte ein Mönch im 16. Jahrhundert Iwan dem Schrecklichen zu. Das erste Rom
war dem Papst, das zweite den Türken in die Hände gefallen, allein in Russland
hielt sich der wahre, der orthodoxe Glaube. Ein Jahrhundert später aber fiel
auch der Kreml vom Christentum ab – so jedenfalls sahen es die Altgläubigen,
die ihre versprengten Gemeinden nunmehr für das vierte und letzte Rom hielten.
Wieder ein paar Jahrhunderte später trat der Messias auf den Plan, dessen
Leiche heute im Mausoleum neben der Kremlmauer liegt. Wieder wurde Moskau zum
Bischofssitz einer Welterlösungsreligion, zum fünften, diesmal endgültig
letzten Rom – ein sechstes, flüsterte Marx, konnte es nicht geben.
Jetzt war all das vorbei. Von Russlands ewiger Suche nach dem wahren
Glauben waren nur Symbole übrig – der rote Stern über dem Spasskij-Turm, die
orthodoxen Kreuze auf den Kuppeln der Kremlkirchen. Gegenüber, in einem
Schaufenster des GUM , hing eine
Leuchtinstallation, die das neue alte Staatswappen zeigte, den doppelköpfigen
byzantinischen Adler. Der Anblick hatte etwas Verzweifeltes – ein schizophrener
Vogel, der sich suchend die Hälse ausrenkt, doppelt ratlos, vierfach blind.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, begann ich, die
Erlebnisse des Vortags aufzuschreiben. Ich blieb den ganzen Tag in der Wohnung.
Abends kam Wanja nach Hause.
»Verdammte Staus«, fluchte er. »Drei Stunden saß ich im Taxi.«
»Warum nimmst du nicht die U-Bahn?«
Irritiert sah er mich an. »Du weißt es noch nicht?«
»Was weiß ich nicht?«
»Terroranschlag. Zwei Bomben, heute Morgen, in der U-Bahn.
Sechsunddreißig Menschen sind tot.«
Ohne genau zu wissen, wozu, machte ich mich auf den Weg ins
Stadtzentrum. Die U-Bahn fuhr inzwischen wieder, aber die Waggons waren so gut
wie leer. Die wenigen Passagiere tauschten nervöse Blicke aus. Kurz vor der
Ringlinie stieg eine dunkelhäutige Frau zu, dem Aussehen nach aus dem Kaukasus.
Zwei Russen, ein Mann und eine Frau, verließen sofort den Waggon.
Am Bahnhof »Park Kultury«, wo eine der beiden Bomben explodiert war,
hatte sich eine schweigende Menschenmenge versammelt. Alle Spuren des Anschlags
waren beseitigt, es gab nichts zu sehen. Die Menschen starrten einen Schrein
aus Blumen und anderen Trauergaben an, der spontan in der Mitte des Bahnsteigs
entstanden war. Niemand sprach, nur ein bärtiger Mann, der ein aufgeschlagenes
Liturgiebuch in den Händen hielt, flüsterte eine Totenmesse. Wie alle anderen
starrte auch ich schweigend den Schrein an, dem ständig neue Gaben hinzugefügt
wurden. Ein Topf Krokusse. Ein Zehn-Rubel-Schein. Zwei Muttergottes-Ikonen, die
eine aus Pappe, die andere aus Holz. Achtzehn weiße Teelichter, neun gelbe
Ikonenkerzen, drei rote Grableuchten. Ein Feuerzeug, eine Schachtel
Streichhölzer, sechs Schokoladeneier, zwei Snickers. Ein handgeschriebener
Zettel: Wy
schiwy – »Ihr lebt«. Rosen, Nelken, Astern, Tulpen, Gerbera,
Weidenkätzchen, Tannengrün.
Als ich gerade gehen wollte, lief ein Mann auf den Schrein zu. Es
war der Typ von Mann, den ich in meiner persönlichen Moskau-Typologie als
Perestroika-Rocker bezeichne: nicht mehr jung, lange Haare, schwarze
Lederjacke, oppositioneller Gesichtsausdruck. Er zog zwei Flaschen Wodka und
einen Stapel Plastikbecher aus seinem Armeerucksack, stellte beides zu den
anderen Totengaben, drehte sich um und ging. Mechanisch zählte ich die Becher:
sechsunddreißig Stück, für jeden einer.
Die Spur der Ikonen
Wenn ich morgens in Wanjas Wohnung aufwachte, war ich
selten allein. Manchmal hatten sich über Nacht die Katzen auf meinem Bett
zusammengerollt, manchmal lagen schlafende Studenten auf dem Teppich. Manchmal
waren, wenn ich den Raum beim Aufwachen nach Gästen absuchte, nur die Ikonen
da. Aus schlaflosen Augen starrten sie mich an.
Ich hatte mich nie besonders für russische Heiligenbilder
interessiert, und im Nachhinein kann ich nicht mehr sagen, warum sie mich
plötzlich nicht mehr losließen. Vielleicht fing es in Moskau an, mit Wanjas
Ikonen, die Nacht für Nacht über meinen Schlaf wachten. Vielleicht lag es auch
an den Bildern, die ich in Kiew gesehen hatte: Die Taufe im Dnjepr, der Erlöser
von Tschernobyl – zwei Ikonen, die von Russlands Anfängen erzählten und vom
Ende der Sowjetunion. Dazwischen lagen tausend Jahre, die sich in
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