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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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anderen
Ikonen spiegeln mussten.
    Bei meinen Gängen durch die verschneite Stadt ging ich zum Aufwärmen
jetzt manchmal in Kirchen. In einer von ihnen entdeckte ich eines Tages eine
große, zeitlich schwer einzuordnende Gottesmutter-Ikone. Sie war im alten
byzantinischen Stil gemalt, der die russischen Heiligenbilder geprägt hatte,
bis die europäische Renaissancemalerei ihn verdrängte. Aber so alt konnte das
Bild vor meinen Augen unmöglich sein. Wie eine moderne Kopie sah es auch nicht
aus, dafür war der Untergrund zu lädiert – zwei Furchen zogen sich durch das
Holzbrett, als sei es der Länge nach in drei Teile zerbrochen und wieder zusammengesetzt
worden.
    Ein junger Mönch, der meine Blicke bemerkte, stellte sich neben
mich.
    »Die Gottesmutter vom Don«, flüsterte er. »Ist sie nicht
wunderschön?«
    »Ja«, flüsterte ich zurück. Sie war tatsächlich bemerkenswert. Die
Gottesmutter und ihr Kind hatten maskenhafte, byzantinische Gesichtszüge, denen
jede Sentimentalität fehlte. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, war das
Leid, das ihre Umarmung überschattete, fast körperlich spürbar.
    »Der Maler war ein großer Mann«, flüsterte der Mönch. »Ein Graf!« Er
sprach den Adelstitel voller Ehrfurcht aus. »Und ein Märtyrer. Erschossen haben
sie ihn.« Hastig bekreuzigte er sich.
    »Erschossen? Warum?«
    »Weil er an Gott glaubte. Stalin duldete keinen Gott neben sich.«
    Ich nickte stumm.
    »Es ist ein Wunder, dass diese Ikone erhalten geblieben ist«, fuhr
der Mönch fort. »Jahrzehntelang war sie verschwunden, eine Bäuerin hat sie als
Tischplatte benutzt. Aber dann ist sie wieder aufgetaucht – ein Wunder!« Wieder
bekreuzigte er sich.
    »Der Maler«, fragte ich. »Hat er in Moskau gelebt?«
    »Ja. Und gestorben ist er auch in Moskau. In Butowo.«
     
    Butowo liegt am südlichen Moskauer Stadtrand. Mit einem
Vorortzug fuhr ich durch Plattenbaubezirke, bis die Stadt zerfaserte und sich
in verschneiten Brachen verlor. Unterwegs las ich das Wenige, was ich über das
Schicksal des Ikonenmalers gefunden hatte – ein paar Zeitschriftenartikel, mehr
nicht. Wladimir Alexejewitsch Komarowskij war 1883 geboren worden, als jüngster
Sohn eines Petersburger Grafengeschlechts. Seine Mutter starb früh, sein Vater
folgte, als Komarowskij sechzehn Jahre alt war. Gerade alt genug, um auf
eigenen Füßen zu stehen, schrieb er sich für ein Kunststudium ein. Eine Weile
ließ er sich durch Westeuropa treiben und entdeckte die französische Malerei
der Jahrhundertwende, die er, zurück in Russland, kopierte.
    Seine wahre Leidenschaft entdeckte er mit 27. Es geschah bei einem
Besuch des Russischen Museums in Sankt Petersburg, das 1910 eine neue Abteilung
für »altrussische Kunst« eröffnete. Kaum jemand, auch Komarowskij nicht,
begriff, was das sein sollte, altrussische Kunst. Vor dem 17. Jahrhundert hatte
es in Russland keine Malerei gegeben – außer Ikonen. Niemand aber hielt diese
alten, im ungelenken Stil von Byzanz gemalten Heiligenbilder zu Komarowskijs
Zeit für Kunst. Man betrachtete sie als primitive Vorstufe einer Maltradition,
die erst im 17. Jahrhundert, unter dem späten Einfluss Europas, zur Kunstform
gereift war. Selbst die Namen der alten Ikonenmeister – Andrej Rubljow,
Dionisij, Feofan Grek – waren weitgehend vergessen. Überhaupt wusste kaum noch
jemand, wie der alte Malstil aussah, weil er in späteren Jahrhunderten so
unmodern geworden war, dass man die Ikonen kurzerhand in europäischer Manier
übermalt hatte.
    So kam es, dass ein paar Restauratoren des Russischen Museums, als
sie Anfang des 20. Jahrhunderts Farbschicht um Farbschicht von den Ikonen
kratzten, eine vergessene Welt entdeckten. Sie versetzten die Bilder in ihren
ursprünglichen Zustand und präsentierten sie einer Öffentlichkeit, die erst
befremdet, dann begeistert reagierte. Russland entdeckte sich selbst. Künstler
und Kirchgänger begriffen, dass sie jahrhundertelang europäisch geschminkte
Gesichter angebetet hatten. Unter dieser Schminke aber erkannten sie nun Züge
einer eigenen, russischen Kunsttradition, die lange vor der Übernahme
europäischer Stile existiert hatte.
    Komarowskij entschied, Ikonenmaler zu werden. Die Jahre zwischen
1910 und 1917 müssen die glücklichsten seines Lebens gewesen sein. Er hatte
eine Mission gefunden, von der er noch nicht ahnte, dass sie zum Scheitern
verurteilt war. Während Komarowskij an Russlands Vergangenheit anknüpfte,
entwarfen die Bolschewiken bereits eine Zukunft, in

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