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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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der für Ikonen kein Platz
mehr war.
    Als der Klassenkampf begann, fiel der Aristokrat Komarowskij in die
Kategorie der bywschije
ljudi , der »ehemaligen Menschen«. Er teilte das Schicksal all
jener Adligen, Kleriker, Beamten und Offiziere, denen man nun, wo sie keine
Menschen mehr waren, auch die Wohnung, die Arbeit, das Wahlrecht entzog.
Komarowskij kam bei entfernten Verwandten unter, in deren Haus bald jedes
Zimmer obdachlose Aristokraten beherbergte. Eine Weile arbeitete er illegal als
Zeichenlehrer in einer Dorfschule, weshalb er 1925 erstmals verhaftet wurde.
Man warf ihm vor, als »Mitglied einer monarchistischen Gruppierung ehemaliger
Aristokraten« Bauernkinder aufgewiegelt zu haben. Die Dorfbewohner sahen das
anders – sie schrieben eine Petition an die Behörden, mit der Bitte, ihnen den
Zeichenlehrer zurückzugeben. Auch ein paar sowjetische Kulturschaffende setzten
sich für Komarowskij ein, darunter Schwergewichte wie Alexej Schtschussew, der
Architekt des Lenin-Mausoleums. Vergeblich. Für drei Jahre verbannte man
Komarowskij in ein sibirisches Straflager.
    Als er heimkehrte, lebte er ohne festen Wohnsitz von kleineren
Auftragsmalereien. Immer wieder, bis in die Dreißigerjahre hinein, malte er
Ikonen und Fresken für die wenigen noch offenen Kirchen, was ihm weitere drei
Verhaftungen einbrachte. Nach der letzten, im August 1937, konnte ihn nichts mehr
retten. Die Jahre des »Großen Terrors« waren angebrochen, Stalin witterte
überall Verrat, der Geheimdienst urteilte Konterrevolutionäre nach festgelegten
Quoten ab. Komarowskijs Anklageschrift liest sich wie der Monolog eines
Paranoikers:
    …
leitete weißemigrantische Terrorgruppen, mit dem Ziel, ein nationales Russland
mit faschistischer Diktatur zu errichten … scharte konterrevolutionäre Elemente
aus dem Kreis reaktionär eingestellter Kleriker um sich … verübte zur
Propaganda seiner monarchistischen Ansichten zerstörerische Sabotageakte …
    Der letzte Satz, das Urteil, ist knapp: Erschießen . Am 5.
November 1937, kurz nach seinem 54. Geburtstag, wurde Komarowskij hingerichtet
und in einem Massengrab verscharrt.
    Beim Lesen der Artikel notierte ich mir alle Hinweise auf
Komarowskijs Ikonen, in der Hoffnung, sie mir ansehen zu können. Die Liste
wurde kurz und traurig.
    1913: Ikonostase für Kirche im
Wolga-Gebiet. Kirche nach der Revolution verwüstet, Ikonostase zerstört,
Priester im Gefängnis gestorben.
    1914: Ikonostase für Kirche in Kulikowo.
Im Bürgerkrieg von Plünderern zu Brennholz zerhackt.
    1917-1925: Einzelne Ikonen für diverse
Kirchen. Alle verschollen.
    1929: Fresken für Kirche in Moskau.
Kirche umgewandelt in Vereinsheim des atheistischen Diskussionsklubs »Bund der
Gottlosen«. Fresken nicht fertiggestellt, Fragmente nicht erhalten.
    1936: Fresken für Kirche in Kasan. Nicht
fertiggestellt, Fragmente nicht erhalten.
    Die »Gottesmutter vom Don«, die ich gesehen hatte, war Komarowskijs
einzige erhaltene Ikone. Gemalt hatte er sie 1918, ein Jahr nach der
Revolution, als er vielleicht schon ahnte, dass die Ära der Ikonen zu Ende
ging. Als man ihn zwei Jahrzehnte später zum letzten Mal verhaftete, wandte er
sich, bevor er abgeführt wurde, mit einem letzten Satz an seine Familie: »Betet
zur Gottesmutter.«
     
    Butowo ist die letzte Station vor der Moskauer
Stadtgrenze. Auf der langen Fahrt wechselte im Waggon erkennbar das Publikum:
Städtisch gekleidete Menschen stiegen aus, Rentner in Gummistiefeln stiegen zu.
Die Vorortbahnen, Elektritschka genannt, sind langsame, ruckelnde Züge ohne
Toiletten, die in Moskau wie rollende Vorposten der Provinz wirken. Während der
Fahrt zogen fliegende Händler durch die Waggons und priesen ihr chaotisches
Sortiment an: Autoatlanten, Tintenkiller, Geschichtsbücher, Küchensiebe,
Regenjacken, Massagekissen, Damenparfüms.
    In Butowo stieg außer mir kaum jemand aus. Rings um die verschneite
Plattform endete Moskau in schmutzgrauen Bruchstücken: Bahndammbarrieren aus
Betonsegmenten, Stacheldrahtkränze, Lagerhallen, ein verdreckter Zeitungskiosk,
Ausfallstraßen auf Betonstelzen, der Rohbau eines Wohnblocks. Zu Fuß lief ich
an diesen Stadtfragmenten vorbei, bis ich die Warschauer Chaussee überquerte
und Moskau hinter mir ließ.
    Eine halbe Stunde lief ich durch ein Waldstück, ohne einem Menschen
zu begegnen. Dann tauchte links der Straße ein grüngestrichener Holzzaun auf.
Die lückenlos vernagelten Planken waren so hoch, dass ich nicht auf die andere
Seite sehen konnte.

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