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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Zur Straße hin entdeckte ich eine Gedenktafel: »Polygon von
Butowo. Ort für Massenerschießungen und Bestattungen von Opfern politischer
Repressionen.« Der Zaun zog sich, mehrfach abknickend, in den Wald hinein, er
schien einem verwinkelten Grundriss zu folgen – daher offenbar die Bezeichnung
»Polygon«. Einen Eingang sah ich nirgends.
    Auf der anderen Straßenseite stand eine große Kirche, dem Anschein
nach nicht alt. Ihre weißen Zeltdächer ließen den Schnee ringsum noch grauer
aussehen. Warmes, rotes Licht flutete aus der Eingangstür. Ich trat ein und
ging direkt auf die Ikonostase zu. Es war die seltsamste Bilderwand, die ich je
gesehen hatte. Rechts der Altartür hing die übliche Christus-Ikone, links die
Gottesmutter. Dazwischen gruppierten sich zwölf kleinere Bilder, deren bizarre
Brutalität so ins Auge sprang, dass der Rest der Ikonostase in den Hintergrund
trat. Ein ungleicher Kampf wurde auf den Bildern ausgetragen. Finstere, in
Armeemäntel gehüllte Gestalten, an den spitzen Mützen unschwer als Bolschewiken
zu erkennen, metzelten wehrlose Christen nieder, über deren leidenden
Gesichtern Heiligenscheine schwebten. Jede Szene dieses sowjetischen Martyriums
zeigte drastische, fast cartoonartige Gewalttaten. Menschen wurden erschossen,
ertränkt, mit Gewehrkolben erschlagen, in Schächte gestürzt, lebendig begraben.
    Nach einer Weile spürte ich die Blicke dreier alter Frauen, die im
Eingangsbereich einen Bücherstand bewachten. Ich ging hinüber und fragte sie,
ob es möglich sei, das Polygon zu betreten.
    »Natürlich!«
    »Sie müssen es sehen!«
    »Wo Sie von so weit her gekommen sind.«
    »Es ist ein besonderer Ort.«
    »Ein heiliger Ort! Haben Sie von den Wundern gehört?«
    »Manchmal hört man Stimmen.«
    »Das sind die Toten. Sie sprechen. Manchmal singen sie auch.«
    »Wie Engel.«
    »Mit Vater Kirill müssen Sie sprechen, der wird Ihnen alles
erzählen.«
    »Warten Sie noch ein Stündchen, dann ist das Väterchen hier.«
    »Vielleicht haben Sie Hunger?«
    »Natürlich hat er Hunger! Wo er von so weit her gekommen ist.«
    Am Ende lotsten sie mich in ein Nebengebäude und fütterten mich mit
Kohlsuppe, bis ich nicht mehr konnte. Als wir zurück zur Kirche gingen, kreuzte
ein Priester unseren Weg.
    »Väterchen! Hier ist ein Gast für Sie, aus Deutschland!«
    Der Mann, der mir die Hand schüttelte, sah aus wie ein
Hollywood-Priester. Vater Kirill – mit vollem Titel: Erzpriester Kirill
Glebowitsch Kaleda, Vorsteher der Neumärtyrer-Kirche von Butowo – verband die
Autorität eines Geistlichen mit dem Charisma eines Filmstars. In seiner
schwarzen Soutane steckte der Körper eines Athleten. Ein grau melierter
Vollbart, der andere Männer alt gemacht hätte, unterstrich die virilen Kanten
seines Gesichts. Aus metallisch blauen Augen sah er mich an. »Seltsam«, sagte
er. »Seltsam, dass Sie nach Komarowskij fragen. Er wurde zusammen mit meinem
Großvater erschossen.«
    Gemeinsam betraten wir das Untergeschoss der Kirche. In einem
kleinen Empfangsraum setzten wir uns auf ein Sofa. Einen Moment lang starrte
Vater Kirill ins Leere, den Anfang seiner Geschichte suchend.
    »Ich bin aufgewachsen mit dem Wissen, dass in unserer Familie jemand
fehlte.«
    Seine Erzählung begann im Jahr 1892, dem Geburtsjahr seines
Großvaters. Wladimir Ambarzumow war in Saratow zur Welt gekommen, an der Wolga,
als Kind eines armenischen Vaters, dem er seinen ungewöhnlichen Nachnamen
verdankte. Als Student hatte er in Moskau eine universitäre Bibelgruppe ins
Leben gerufen, den »Christlichen Studentenkreis«. Ableger dieser Organisation
formierten sich, obwohl inzwischen die Bolschewiken an der Macht waren, bald an
Hochschulen in ganz Russland. Mehrfach wurde Ambarzumow verhaftet und verhört,
als Initiator einer vermeintlich konterrevolutionären Bewegung. Als sein
Studentenkreis schließlich verboten wurde, setzte er die Arbeit illegal in
einem Moskauer Abbruchhaus fort. Nach dem Studium ließ er sich zum Priester
weihen und leitete bis 1931 eine kleine Moskauer Kirchengemeinde, die er
schweren Herzens aufgab, als zunehmende Schikanen seine Arbeit unmöglich
machten. Auch später noch wurde er wiederholt verhaftet, weil man ihn
verdächtigte, geheime Gottesdienste in seiner Wohnung durchzuführen. Ob er das
tatsächlich tat, geht aus den Vernehmungsprotokollen, die Vater Kirill mir
zeigte, nicht hervor. Um Tatsachen aber ging es ohnehin nicht bei diesen
Teufelskreis-Verhören.
    »In welchen

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