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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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konterrevolutionären Organisationen
waren Sie wo und wann Mitglied?«
    »Ich war nie Mitglied einer
konterrevolutionären Organisation.«
    »Womit erklären Sie dann die Verhaftung
von Mitgliedern des Christlichen Studentenkreises, der faktisch
konterrevolutionären Aktivitäten nachging?«
    »Ich bin überzeugt, dass die Sowjetmacht
religiöse Menschen nicht versteht. Deshalb wird der Studentenkreis verdächtigt,
konterrevolutionären Aktivitäten nachzugehen. Ich weise diesen Vorwurf zurück.«
    »Sie haben angegeben, dass die
Sowjetmacht religiöse Menschen nicht versteht, wodurch Sie Ihre unverhohlene
Feindseligkeit gegenüber der Sowjetmacht zum Ausdruck gebracht haben. Erklären
Sie diese Haltung.«
    »Ich stehe der Sowjetmacht nicht
feindselig gegenüber, meine Antwort ist so nicht zu betrachten.«
    »Beschreiben Sie Ihr Verhältnis zur
Sowjetmacht.«
    »Ich halte sie für eine zeitweilige
Erscheinung, wie jede Macht.«
    »Beschreiben Sie den Inhalt Ihrer
konterrevolutionären Gespräche mit dem Angeklagten Michail Schick.«
    »Bei unseren Treffen besprachen wir die schwierige
Lage der Kirche in der Sowjetunion. Ich sprach darüber, dass es Fälle von
Klerikern gibt, die schuldlos verurteilt und in Konzentrationslager und
Gefängnisse verbannt werden.«
    Der letzte Satz wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Im
November 1937 verurteilte man Ambarzumow zu »zehn Jahren Lagerhaft ohne Recht
auf Schriftverkehr«, so jedenfalls teilte man es seinen Angehörigen mit. Zehn
Jahre vergingen. Ambarzumow kehrte nicht heim. Er kehrte nach elf Jahren nicht
heim und nicht nach zwölf Jahren, und erst nach sechzehn Jahren, als Stalin
starb, wagten es seine Angehörigen, bei den Behörden nachzufragen. Ambarzumow,
teilte man ihnen mit, sei im Lager gestorben, an Nierenversagen, im Dezember
1943, Bestattungsort unbekannt.
    Wiederum ein paar Jahre später brachte Ambarzumows Tochter Lidija
einen Jungen zur Welt. Der Junge, Kirill genannt, wuchs in dem Wissen auf, dass
in seiner Familie jemand fehlte. Ein Großvater war abhandengekommen, man wusste
nicht, wie und warum. Jeden Sonntag feierte die Familie in ihrer Wohnung einen
konspirativen Gottesdienst, Kirills Vater hatte sich heimlich zum Priester
weihen lassen. Sonntag für Sonntag sprach Kirill das Familiengebet nach: »Herr!
Gib, dass wir erfahren, wie Großvater Wolodja gestorben ist!«
    Aus dem Jungen wurde ein Geologe. Kirill Kaleda, Spezialist für
Gesteinsforschung, war Anfang dreißig, als das Imperium unterging, in dem sein
Großvater untergegangen war. Bevor es ganz unterging, wurde das Imperium
altersmilde, es räumte Fehler ein und versprach, sie wiedergutzumachen. Im
November 1989 betrat Kirill Kaleda das KGB -Hauptgebäude
am Moskauer Ljubjanka-Platz. Man hatte ihn vorgeladen, weil er sich nach dem
Schicksal seines Großvaters erkundigt hatte. Ein Beamter mittleren Alters
eröffnete ihm, dass Wladimir Ambarzumow am 3. November 1937 zur Höchststrafe
verurteilt und zwei Tage später erschossen worden war, Hinrichtungsort Moskau,
Bestattungsort unbekannt.
    Der Beamte händigte Kaleda zwei letzte Fotografien des Großvaters
aus, aufgenommen kurz vor seiner Hinrichtung. Die Bilder zeigten den Großvater
frontal und im Profil, eine Metallklemme hielt seinen Kopf in Positur. Der Mann
auf den Bildern war noch lebendig, aber seine Augen starrten schon in eine
andere Welt.
    Der Beamte zeigte Kaleda außerdem die Fotografie eines Mannes, der
zusammen mit dem Großvater verurteilt worden war. Er hieß Wladimir Komarowskij.
Kaleda kannte den Ikonenmaler nicht, aber er prägte sich den Namen ein. Auf dem
Foto hatte er den gleichen unirdischen Blick wie der Großvater. Warum die
beiden Männer gemeinsam erschossen worden waren, fand Kaleda nie heraus. Er
wusste nicht einmal, ob sie sich gekannt hatten.
    Als das Imperium endgültig unterging, sammelte die orthodoxe Kirche
auf, was von ihr übrig geblieben war. Listen wurden erstellt, Listen von Opfern
der Christenverfolgungen. Auf einer dieser Listen entdeckte Kaleda eines Tages
den Namen seines Großvaters. Er war einer von knapp tausend Klerikern,
Bischöfen, Priestern, Mönchen, Laien und Ikonenmalern, die auf dem Polygon von
Butowo erschossen worden waren.
    Die Kirche ließ kurz darauf ein Gedenkkreuz auf dem
Hinrichtungsgelände aufstellen. Ein Bischof hielt eine Predigt, die Kaleda nie
vergaß. Jeder, sagte der Geistliche, habe hier sein Kreuz tragen müssen – die,
die erschossen wurden, und die, die schossen.

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