Mein russisches Abenteuer
Filatow
häufte Loyalitätsbekundungen monarchistischer Verbände und orthodoxer Kleriker
auf den Tisch, er zeigte mir medizinische Atteste und kriminologische Studien.
Zwei Schriftkundler waren zu dem »kategorischen Schluss« gekommen, dass
Filatows Vater und der jugendliche Thronfolger die gleiche Handschrift gehabt
hatten. Ein Gerichtsmediziner hatte Fotografien beider Männer analysiert, die
»mit hoher Wahrscheinlichkeit« dieselbe Person in unterschiedlichen
Lebensphasen zeigten. Ein Genlabor bescheinigte Filatow, sein Erbmaterial weise
»zahlreiche charakteristische Merkmale« der Romanow-Dynastie auf.
Dank all dieser dubiosen Unterstützer hatte sich Filatows Glauben an
seine Herkunft über die Jahre zunehmend versteift, bis er irgendwann
unzugänglich für Gegenargumente geworden war. Das betraf auch die Überreste der
Zarenfamilie, die in den frühen Neunzigerjahren am Stadtrand von Jekaterinburg
ausgegraben wurden. Zunächst schien damals sogar alles für Filatow zu sprechen:
Gerichtsmediziner sortierten die lädierten Knochenreste und ordneten sie mit DNA -Tests den einzelnen Mitgliedern der Zarenfamilie zu.
Am Ende stellten sie fest, dass zwei Kinder fehlten: Weder Alexej noch seine
Schwester Maria waren unter den Toten. Im Fernsehen sah Filatow, wie die
Überreste aus Jekaterinburg nach Sankt Petersburg überführt wurden, wie man sie
feierlich in der Peter-und-Paul-Kathedrale beisetzte. Am Tag vor unserem
Treffen hatte ich die Kirche besucht und die kleine Seitenkapelle mit den
Grabnischen der Zarenfamilie gesehen – darunter auch die beiden leeren Nischen,
an denen Filatows ganze Hoffnung hing.
Im Sommer 2007 aber wurden in Jekaterinburg weitere Leichenteile
entdeckt. Nicht weit entfernt von der ersten Fundstelle stieß man auf verkohlte
Knochenfragmente, die mit DNA -Tests den beiden
noch fehlenden Zarenkindern zugeordnet wurden. Für Filatow hätte jetzt eine Welt
zusammenbrechen müssen. Seine Welt aber war im ständigen Ringen mit der
Realität bruchfest geworden.
»Wo sind sie, diese Knochen?«, fragte er höhnisch. »Warum werden sie
nicht beigesetzt? Seit drei Jahren erzählt man uns, Alexej und Maria seien
identifiziert, aber ihre Grabnischen sind immer noch leer.«
Als die Kellnerin zum dritten Mal Tee brachte, fand sie keinen
Platz, um die Tassen abzustellen – ein Berg aus Dokumenten bedeckte den Tisch.
Filatow schob die Zettel ein wenig beiseite. Ein Foto seines Vaters fiel zu
Boden. Ich hob es auf. Der Mann auf dem Bild sah weder seinem Sohn noch seinem
vermeintlichen Vater besonders ähnlich. Er trug das dunkle Haar
kurzgeschnitten, sein Gesicht war schmal, die Augen melancholisch, leicht
hündisch. Angestrengt suchte ich nach Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem
Thronfolger, aber von Alexej gab es nur Kinderfotos, und der Mann, dessen Bild
ich in der Hand hielt, war mindestens fünfzig.
Als ich das Foto zurück auf den Tisch legte, fiel mein Blick auf
Filatow. Wieder sprang mir die verblüffende Ähnlichkeit ins Auge, die ihn mit
Nikolaj II. verband, seinem angeblichen Großvater. Im Geiste zog ich alle
Attribute ab, mit denen Filatow die Ähnlichkeit betonte: das majestätisch aus
der Stirn gekämmte Haar, den herablassenden Gesichtsausdruck, den exzentrischen
Kaiserbart, den Maßanzug mit dem albernen Einstecktuch, seine gestelzten Sätze,
die Art, wie er beim Teetrinken den kleinen Finger abspreizte. Die Ähnlichkeit
blieb. Ich fragte mich, was Filatow dachte, wenn er morgens in den Spiegel sah.
»Die Leute denken immer, dass ich ihnen irgendetwas wegnehmen will«,
sagte er, als wir uns verabschiedeten. »Sie begreifen nicht, dass ich kein
Zarengold will, keine Paläste, keine Fabergé-Eier. Ich will nicht Majestät
genannt werden, und ich will nicht über Russland herrschen.« Er sah mir in die
Augen, ernst, fast bittend. »Ich will nur eins. Ich will wissen, wer mein Vater
war.«
Draußen auf der Straße sah ich ihm lange nach. Ein Mann mit bemüht
aristokratischer Körperhaltung schritt den Newskij Prospekt entlang, an seiner
Seite eine raunende Rechtsanwältin, in seinem Kopf ein trostloser, thronloser
Traum.
Ein Scheinheiliger ohne Heiligenschein
Manchmal kam mir Russland vor wie das bärtigste Land der
Welt. Nicht, weil es auffällig viele Bartträger gäbe – die meisten russischen
Männer sind glattrasiert. Hin und wieder aber begegneten mir Bärte, die alles
in den Schatten stellten, was ich anderswo an Bärten gesehen habe.
Vater Jewstafij schlug sie alle. Sein
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