Mein russisches Abenteuer
Norden aus den
Westen angestarrt, zwei Jahrhunderte lang hatten Peters Nachfolger europäische
Weltanschauungen importiert – bis sich eines Tages Marx durch das baltische
Fenster stahl. Ein Westwind war es, der Petersburg das Leben schenkte, ein
Westwind nahm es ihm. Ein Westwind einte Russland und Europa, ein Westwind
blies den Kontinent entzwei.
Der letzte Thronfolger
Peters Boot steht im Marinemuseum in der Mitte des
zentralen Ausstellungssaals. Sein Mast zeigt wie ein Wegweiser auf die Decke.
Ziemlich genau über ihm, im zweiten Stock des Museums, liegt das Büro eines
Militärhistorikers namens Oleg Filatow. Es ist nicht der angenehmste
Arbeitsplatz. Im Winter, wenn der Wind von der Newa her ungebremst um die
freistehende Museumsfassade pfeift, verwandelt er das Büro in eine eisige,
zugige Hölle. Obwohl Filatow ständig erkältet ist, würde er niemals irgendwo
anders arbeiten wollen. Das hat familiäre Gründe.
Als ich ihm gegenüberstand, traf mich die Ähnlichkeit unvorbereitet,
obwohl ich Fotos von ihm gesehen hatte. Mit seinen wasserblauen, leicht
fischigen Augen und dem bleichblonden Spitzbart sah Filatow aus wie ein
Albino-Zwilling des letzten russischen Zaren Nikolaj II., dem
Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel von Peter dem Großen. Es ist ein Vergleich, den Filatow
nicht selten hört – und nicht ungerne. Auch das hat familiäre Gründe.
Wir tranken Tee in einem georgischen Restaurant am Newskij Prospekt.
Während Filatow mir seine Geschichte erzählte, lauerte ich angestrengt auf
Unstimmigkeiten und Widersprüche, ich wartete auf die Selbstentlarvung eines
Hochstaplers. Vergeblich. Die Geschichte mochte haarsträubend sein, aber
Filatow hatte sie sich nicht ausgedacht. Er glaubte sie.
Juli 1918, Jekaterinburg, 1800 Kilometer östlich von Sankt
Petersburg. Seit zweieinhalb Monaten werden Nikolaj II. und seine Familie in
einer Villa im Stadtzentrum festgehalten. In Moskau träumt Trotzki davon, den
abgedankten Zaren vor ein Revolutionsgericht zu stellen und ihm persönlich den
Prozess zu machen, aber es kommt nicht mehr dazu. In ganz Russland tobt der
Bürgerkrieg. Noch hält die Rote Armee Jekaterinburg, aber weißgardistische
Truppen, die aus Sibirien auf den Ural vorrücken, haben die Stadt eingekesselt.
Der Zar droht dem Feind in die Hände zu fallen.
In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli wird Nikolaj II. geweckt.
Unter dem Vorwand, ihn vor Feuergefechten zu schützen, führt man ihn und seine
Familie in einen Kellerraum. Nikolajs Gattin, Zarin Alexandra, bittet um einen
Sessel für ihren hämophiliekranken Sohn, den vierzehnjährigen Thronfolger
Alexej. Für ihn und seine Mutter trägt man Stühle in den Keller, alle anderen
Familienmitglieder und Bediensteten, elf Menschen sind es insgesamt, lässt man
dahinter in zwei Reihen Aufstellung nehmen, wie für ein Foto. Dann geht alles
sehr schnell. Elf bewaffnete Männer betreten den Raum, ein zwölfter verliest
lakonisch das Todesurteil. »Was? Was?«, fragt Nikolaj noch, dann durchschlägt
die erste Kugel seine Stirn. Minutenlang hallt Pistolenfeuer durch den Raum,
Pulverdampf vernebelt den Todesschützen die Sicht. Querschläger pfeifen durch
den Raum – mysteriöserweise scheinen die Kugeln an den Körpern der vier
Zarentöchter abzuprallen, die Mädchen schreien, aber sie sterben nicht. In
Panik gehen die Mörder mit Bajonetten auf sie los. Fast zwanzig Minuten dauert
das Gemetzel, erst dann wird es still im Keller.
Noch in derselben Nacht werden die Leichen abtransportiert. Man
wirft sie in einen stillgelegten Schacht am Stadtrand, der trotz mehrerer
Sprengversuche nicht einstürzen will. Die handwerklich überforderten
Bolschewiken warten bis zum Sonnenaufgang, dann zerren sie die Toten wieder aus
dem Stollen. Als man sie entkleidet, stellt sich heraus, dass in die Mieder der
Zarentöchter Diamanten eingenäht sind – sie waren es, die bei der Hinrichtung
die Geschosse abprallen ließen. Man übergießt die nackten Leichen mit
Schwefelsäure, um sie unkenntlich zu machen. Die verstümmelten Überreste werden
schließlich in einer Grube verscharrt, ein Lastwagen ebnet die Erde ein,
zuletzt verlegt man Baumstämme über der Grabstelle, um sie als Wegbefestigung
zu tarnen. Die russische Monarchie ist beerdigt.
So steht es in den Geschichtsbüchern.
Oleg Filatows Vater hasste die Geschichtsbücher. Zum Glück war er
Geografielehrer. In der Schule musste Wasilij Xenofontowitsch Filatow über
Geschichte nicht sprechen, und zu Hause sprach er generell
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