Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
Bart kannte keine Grenzen. Ein
weißblondes Dickicht ohne Anfang und Ende wucherte ihm aus allen Poren,
gelichtet allein von einer wuchtigen Nase und einem eisgrauen Augenpaar. Wenn
Vater Jewstafij wütend war, und er neigte zur Wut, dann flackerte Zornesröte
durch den erkennbaren Teil seines Gesichts – in solchen Momenten sah er aus wie
ein brennender Heuschober.
    Rüde schob er mich durch den Flur seiner Wohnung und riss die Tür
zum Arbeitszimmer auf.
    »Da!«, grollte er. Sein verwildertes Kinn deutete auf eine Ikone,
die an der gegenüberliegenden Wand hing. »Da haben Sie, wonach Sie gesucht
haben!«
    Sprachlos näherte ich mich dem Heiligenbild. Vater Jewstafij trat
neben mich. Obwohl ich seinen Mund nicht sehen konnte, spürte ich, dass er
grinste. Er genoss meine Fassungslosigkeit.
    »Und?«, fragte er höhnisch. »Gefällt sie Ihnen?«
    Er kannte die Antwort. Sie gefiel mir nicht, sie konnte mir nicht
gefallen. Ein gespenstisch vertrautes Gesicht, kaltschnäuzig und schnauzbärtig,
dominierte das Bild: Stalin, Lenker und Henker der Völker.
    Die Ikone hatte Vater Jewstafij seine Gemeinde gekostet. Bis vor
zwei Jahren war er der Vorsteher einer kleinen Kirche am Stadtrand gewesen. Es
war eine ganz normale Kirche, mit ganz normalen Kirchgängern, die vor ganz
normalen Heiligenbildern ihre Kreuze schlugen, bis eines Tages ein altes
Mütterchen schreiend aus der Kirche gerannt kam, weil die Frau plötzlich
gemerkt hatte, dass sie ihre Kreuze vor einem schnauzbärtigen Scheinheiligen
schlug. Das Geschrei war bis zum Bischof vorgedrungen, und Vater Jewstafij, der
die Ikone aufgehängt hatte, durfte seinen Rücktritt einreichen. Seitdem hing
das Bild in seiner Wohnung, mitten im Stadtzentrum von Sankt Petersburg.
    »Aber warum …?«, setzte ich an. Die ganze Idee war absurd. Gut,
Stalin hatte als junger Mann ein Priesterseminar besucht, bevor Marx in sein
Leben trat. Danach aber hatte er sein Bestes getan, um die Kirche zu vernichten
– ich hatte die Spuren des Blutbads selbst gesehen, in Butowo. Wie konnte ein
russischer Christ auf die Idee kommen, den eigenen Henker anzubeten?
    All das aber war ein Missverständnis, wie Vater Jewstafij mir
erklärte. »Glauben Sie nicht alles, was in den Zeitungen steht!« Er drückte
mich in einen Stuhl und schmetterte Kaffeegeschirr auf den Tisch. Die Wut
loderte hinter seinem Bart. »Es ist alles gelogen!«
    Niemals, erklärte er mir, hatte Stalin vorgehabt, die Kirche
auszulöschen, im Gegenteil: Er hatte sie gerettet. Nach Lenins Tod hatte er
systematisch die komplette Führungsriege der Bolschewiken ermorden lassen, bis
allein er selbst übrig blieb – mit dem einzigen Ziel, die kommunistische
Kirchenverfolgung zu stoppen. Zugegeben, um seine wahren Absichten zu
verschleiern, hatte er auch ein paar Priester opfern müssen. »Aber die sind
jetzt alle im Himmel«, versicherte mir Vater Jewstafij. »Kein Land hat so viele
Märtyrer wie Russland, keins hat so viele Fürsprecher bei Gott. Wir müssen
Stalin danken!«
    Entgeistert rang ich um Worte. »Aber wer … wieso sollte er … was
macht ihn zu einem Heiligen?«
    Vater Jewstafij lächelte ein schlaues Lächeln. Er deutete auf die
Ikone. »Sehen Sie genau hin. Er ist kein Heiliger.«
    Erst jetzt sah ich mir das Bild näher an, auf dem ich bisher nur
Stalin wahrgenommen hatte. Stehend, in einem bodenlangen Militärmantel, nahm
sein Körper die rechte Hälfte der Ikone ein. Links hinter ihm, in der
Bildmitte, saß eine alte Frau. Ihre Augen waren geschlossen, ihre rechte Hand
segnend erhoben. Ein goldener Heiligenschein umgab ihr Gesicht. Mein Blick
wanderte zurück zu Stalin. Kein Heiligenschein.
    »Wer ist die Frau?«, fragte ich.
    »Die Heilige Matrona von Moskau.«
    Jetzt erkannte ich sie. Ich sah ihre geschlossenen Augen nicht zum
ersten Mal – die Ikonen der blinden Wunderheilerin waren mir in ganz Moskau
begegnet. Ihre Heiligsprechung lag erst ein paar Jahre zurück. Sie hatte in der
frühen Sowjetzeit gelebt, in einer Moskauer Abrisswohnung, in der sie heimlich
Kranke und Ratsuchende empfing – ein blindes Orakel.
    »Stalin war bei ihr«, sagte Vater Jewstafij. »Im Krieg, als die
Deutschen vor Moskau standen. Er wollte ihren Segen, ihren Rat. Sie sagte ihm:
Halt aus, bleib in Moskau, dann werden die Deutschen die Stadt nicht
einnehmen.« Er warf mir einen triumphierenden Blick zu. »Und genauso kam es
dann auch! Das muss ich Ihnen nicht erzählen, mein deutscher Freund, das wissen
Sie besser als

Weitere Kostenlose Bücher