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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Tod die russische Intelligenzija zerfiel. In den Salons von Sankt
Petersburg fochten sie mit Worten einen Richtungsstreit aus, an dem im Herzen
das ganze Land teilnahm. Wer in welches Lager gehörte, sah man den Kontrahenten
oft schon von außen an: Je glatter das Kinn, desto europäischer die Geisteshaltung,
je länger der Bart, desto russischer die Seele. Noch Dostojewskij und
Solschenizyn sollten dieser Regel treu bleiben.
    Für die bärtigste Bevölkerungsgruppe von allen, die Altgläubigen,
bedeutete Peters Herrschaft den endgültigen Bruch mit der Welt. War der Zar
früher der Garant der göttlichen Ordnung auf Erden gewesen, so musste dieser
Herrscher, der alles auf den Kopf stellte und ins Gegenteil verkehrte, der
Antichrist sein. Unter seiner Regierung begann der große Exodus der
Altgläubigen in die unbesiedelten Weiten Sibiriens – auch Agafja Lykowas
Vorfahren hatten damals der Welt den Rücken gekehrt. Deshalb war ich in die
Stadt gefahren, die bis heute Peters Traum vom Westen verkörpert. Ich wollte
sehen, wovor die Altgläubigen geflohen waren.
     
    Jetzt, im späten April, war der Wind milde. Er hatte seine
winterliche Schärfe verloren, die Spaziergänger fürchteten ihn nicht mehr, mit
entkrampften Schultern flanierten sie durch die Stadt wie Kurgäste nach einem
langwierigen Hexenschuss. Die Sonne wärmte noch nicht, aber schon jetzt schien
ihr nordisches Licht bis weit in die Nacht hinein. Ein paar Wochen noch, dann
würde es in Sankt Petersburg keine Nacht mehr geben.
    Aus Moskau kommend, durchlief ich die Stadt mit dem verstörenden
Gefühl, unbemerkt eine Landesgrenze überschritten zu haben. Russland verschwamm
wie eine blasse Erinnerung, ich war jetzt in Europa, oder jedenfalls in einer
Stadt, die alles daransetzte, Europa zu imitieren. Moskaus chaotischer
Wildwuchs wich einer durcharrangierten Komposition aus Palästen, Prospekten und
Kanälen. Verschwommen spiegelten sich die Barockfassaden in den verzweigten
Wasserflächen der Newa – es sah aus, als stehe die gesamte Stadt auf dem
Grundriss eines versunkenen Europas. Ich fremdelte. Petersburgs Schönheit war
atemberaubend, aber nach zwei Monaten in Moskau fühlte ich mich seltsam
entwurzelt. Ein irrationales Mitleid überkam mich, ich musste an die
überforderten Moskauer denken, die Peter einst gezwungen hatte, seine
ausgedachte Traumstadt zu bevölkern. Sie mussten sich gefühlt haben wie
ungelenke Schauspieler in einer Inszenierung, deren einziger Zuschauer der Zar
war.
    Dreihundert Jahre später wirkte die Vergangenheit vergessen.
Petersburg hatte seine Rolle gefunden, die Menschen bewohnten ihre
Kulissenstadt mit einheimischer Selbstverständlichkeit. Jeder, mit dem ich ins
Gespräch kam, stellte mir die gleiche rhetorische Frage: Wo ist es besser –
hier oder in Moskau? Niemand wartete meine Antwort ab, Petersburgs
Führungsposition war nicht verhandelbar. Mit einer Mischung aus Furcht und
Verachtung sah man hier auf Moskau herab, diese vulgäre Stadt des Geldes und
der Macht. Petersburg dagegen! Sewernaja Venezija , »das Venedig des Nordens«! Kulturnaja stoliza ,
»die kulturelle Hauptstadt«! Ich brauchte eine Weile, um den Sinn dieser
Synonyme zu begreifen, denn mit Venedig verbindet Petersburg wenig außer
Wasser, und kulturell kann sich die Stadt mit dem großen, reichen Moskau
schlecht messen. Aber das ist auch nicht gemeint. Venezija steht für
Europa, kulturnaja für kultiviert. Aus beiden Attributen spricht der Stolz, zu einem anderen,
zivilisierteren Kulturkreis zu gehören. Peter wäre stolz gewesen auf solche
Petersburger.
    Vom Marinemuseum aus ging ich die Newa entlang, bis ich vor
Petersburgs zweitem berühmten Schiff stand, dem Panzerkreuzer Aurora. Seine
Bordkanonen waren es, die 1917 eine Salve Platzpatronen in den Oktoberhimmel
feuerten und das Signal zum Sturm auf den Winterpalast gaben. Ein knappes
Jahrhundert war das nun her, und noch immer ankerte der stählerne Koloss in der
Newa, eine Ikone der Revolution. Auf der Uferpromenade ließen sich junge Frauen
vor der Flanke des Kriegsschiffs fotografieren, Kurven und Kanten, die Schöne
und das Biest.
    Die Salve der Aurora war Petersburgs Todesfanal. In der Stadt, die
im Namen des Fortschritts erbaut worden war, sahen die Bolschewiken nur noch
versteinerten Zarismus. Zum Zentrum ihrer Weltrevolution machten sie Moskau.
Ironischerweise schloss sich damit das »Fenster nach Europa«, das Peter
aufgestoßen hatte. Zwei Jahrhunderte lang hatte Russland von

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