Mein russisches Abenteuer
nicht viel. Erst
1988, auf dem Sterbebett, eröffnete der schweigsame Vater seinem Sohn Oleg, was
1918 wirklich geschehen war.
Die erste Kugel durchschlägt die Stirn des Zaren. Nikolaj II. stürzt
zu Boden. Im Fallen begräbt er Alexej unter sich, seinen Sohn. Der Körper des
Zaren schützt den Thronfolger vor tödlichen Treffern, nur Alexejs Arme und
Beine werden von einzelnen Kugeln durchschlagen. Der Junge hört das Pfeifen der
Querschläger und die Schreie seiner Schwestern, er sieht die Bajonette
zustechen. Verzweifelt schließt er die Augen und stellt sich tot. Als alles
vorbei ist, wirft man ihn zusammen mit den Leichen seiner Verwandten auf die
Ladefläche eines Lastwagens. Auf dem Weg zur Stadtgrenze gelingt ihm die
Flucht, er springt vom Wagen. Die Wachleute werfen ihm eine Handgranate
hinterher, die ihm die rechte Ferse zerfetzt, aber er kommt davon, er versteckt
sich unter einer Eisenbahnbrücke, seine Verfolger finden ihn nicht.
Eine Weichenstellerin entdeckt den schwerverletzten Jungen am
nächsten Morgen. Die Frau verständigt zwei Rotarmisten, die den Thronfolger
erkennen, aber nicht verraten. Sie bringen ihn in ein kleines Dorf im
nördlichen Ural-Gebirge, bewohnt vom Volksstamm der Chanten, dessen
Medizinmänner für ihre Heilkräfte berühmt sind. Die Chanten päppeln den
halbtoten Jungen auf, sie reiben ihm zerstoßene Kräuter in die Wunden, flößen
ihm Rentierblut ein, zwingen ihn, gekochte Tieraugen zu essen. Der Zarensohn
überlebt. Selbst die Hämophilie, unter der er von Geburt an leidet, eine
erbliche, damals als unheilbar geltende Störung der Blutgerinnung, verschwindet
spurlos. Die Chanten geben das genesene Findelkind in die Obhut eines
Schuhmachers, dem kurz zuvor der Sohn gestorben ist. Unter falschem Namen
wächst Alexej auf. Den Großteil seines Lebens verbringt er in der russischen
Provinz, erst nach seiner Pensionierung siedelt er mit seiner Familie nach
Sankt Petersburg um. Er wird alt, sehr alt.
»Er lebt immer noch«, sagte Olegs Vater auf dem Sterbebett, als er
seine Erzählung beendet hatte. Dann tat Wasilij Filatow alias Alexej Romanow
seinen letzten Atemzug und starb.
Der Sohn, Oleg, begriff erst im Nachhinein vieles, was ihm
rätselhaft geblieben war, als der Vater noch gelebt hatte. Er begriff, warum er
kaum etwas gewusst hatte über diesen schweigsamen Mann, über seine Herkunft,
seine Familie. Immer hatte er sich gefragt, woher der Vater all seine Bildung
hatte, obwohl er nur ein Provinzlehrer war und der Sohn eines Schuhmachers.
Deutsch und Englisch hatte der Vater gesprochen, Französisch und Italienisch,
Altgriechisch und Latein, mehrere Instrumente hatte er gespielt, und über die
russische Geschichte hatte er alles, wirklich alles gewusst. Und die Narben! Bei
einem Angelausflug hatte Oleg sie zum ersten Mal gesehen, neun Jahre alt war er
da, in der Sommerhitze hatte der Vater das Hemd ausgezogen. Papa, fragte der
Sohn, was sind das für Narben? Wunden aus dem Krieg, antwortete der Vater, aus
dem Bürgerkrieg – meine Familie wurde umgebracht, ich habe überlebt. Danach
hatte der Vater nie wieder über seine Narben gesprochen. Bis zu seinem Tod.
Als Oleg Filatow begann, die Geschichte seines Vaters
weiterzuerzählen, glaubte ihm kein Mensch. Fantast, sagten die Leute, Lügner,
Traumtänzer, Hochstapler. In den sieben Jahrzehnten, die seit der Ermordung der
Romanows vergangen waren, hatte es Dutzende von selbsternannten Zarenkindern
gegeben, die auf wunderbare Weise dem Gemetzel entkommen sein wollten – Filatow
war nicht der Erste, und sicher würde er nicht der Letzte sein, der sich für
den Erben des russischen Throns hielt. Der zaristische Spitzbart, den er sich
kurz nach dem Tod seines Vaters zulegte, machte ihn nicht unbedingt
glaubwürdiger, aber ich traute mich nicht, Filatow das ins Gesicht zu sagen. Er
tat mir leid. Seit mehr als zwei Jahrzehnten versuchte er, die Geschichte
seines Vaters zu beweisen, seit mehr als zwei Jahrzehnten ließ er sich
auslachen. Er war die Geisel einer Familienlegende.
Zu unserem Treffen hatte er, warum auch immer, seine Anwältin
mitgebracht, eine bevormundende Frau, die Filatow Stichwörter zuraunte, wann
immer er nicht weiterwusste. Bis zum Schluss begriff ich nicht, was sie sich
von Filatow erhoffte. Ich begriff nur, dass sie nicht der einzige Mensch war,
der aus unklaren Motiven Filatows Hoffnungen nährte. Immer wieder hatten sich
im Lauf der Jahre undurchsichtige Förderer und Fürsprecher gefunden.
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