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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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kurzgeschorener Kopf drehte
sich irritiert nach unserer Sektrunde um.
    Als die Flasche leer war, starrten wir alle den Zug an, der mich
über die magische Grenze des Autobahnrings hinwegtragen würde, tief hinein in
ein Hinterland, das keiner von uns richtig kannte, weder ich, der Ausländer,
noch sie, die Hauptstädter. »Schick uns eine SMS ,
sobald sich die Uhren rückwärts drehen«, scherzte einer. Wir lachten, mehr
pflichtschuldig als amüsiert, der Witz klang in dieser Umgebung plötzlich
schal. Ein Zittern ging durch die Reihe der Waggons, und die Schaffnerin mahnte
zum Einstieg. Wir umarmten uns. Niemand lachte, als Wanja mit drei Fingern
meine Stirn berührte, meine Brust, die rechte, dann die linke Schulter.
    Im Wageninneren waren die Deckenstrahler noch nicht eingeschaltet,
warmes Halbdunkel umfing die Passagiere. Es herrschte eine Stille, wie sie nur
Menschenmengen erzeugen können. Männer unterhielten sich im Flüsterton oder
starrten stumm aus dem Fenster, ihre Frauen raschelten mit blau-weißer
Bettwäsche. Hin und wieder durchbrach Kinderlachen das allgemeine Bemühen um
Ruhe, gefolgt vom mahnend geflüsterten »ticho, ticho, ticho« der Mütter. Erst
als der Zug sich in Bewegung setzte und seine mechanischen Seufzer zum stetigen
Begleitgeräusch wurden, löste sich im Waggon die Anspannung.
    Ich teilte meine Vierereinheit mit einem graubärtigen Mann und zwei
jüngeren Frauen. Beim Einsteigen hatten wir uns kurz begrüßt, aber jetzt,
während der Zug durch die Moskauer Nacht rollte, sprach niemand mehr. Vor den
Fenstern wich die grell erleuchtete Innenstadt den dunkleren Prospekten der
Randbezirke, und als es keinen naheliegenden Grund mehr gab, das endlose
Defilee der Plattenbauten zu verfolgen, legten sich meine Mitreisenden
schlafen. Ich zog mich auf meine Liege zurück und beobachtete das wirre
Schattenspiel, das über die zugezogenen Vorhänge flackerte, nervöser Nachglanz
einer nervösen Stadt.
    Ein Kind weinte leise in der Dunkelheit, gequält von den
Zwillingsdämonen des Zugreisenden: Schwellenschlag und Schwellenangst. Eine
Weile lauschte ich dem beruhigenden »ticho, ticho, ticho« der Mutter, dann fiel
ich in einen traumlosen Schlaf.

WASSER
(Sibirien)
    Dies geschah, als der Anfang begann,
    Als unsere Mutter Erde entstand.
    Schneeweiße Gipfel erhoben sich
    Und standen fest und rührten sich nicht.
    Bäche stürzten aus eisigen Spalten,
    Bahnten sich Betten, kannten kein Halten,
    Strömten vom Berg in Täler und Weiten,
    Vereinten sich zu Flüssen, zu breiten,
    Verbanden sich zu mächtigen Strömen,
    Das Antlitz der Erde auf ewig zu schönen.
    (Anfangsverse der chakassischen Sage »Altyn-Tschjus«)
     
    Sechs Esslöffel getrocknete
Haselwurzblätter mit einem halben Liter kochendem Wasser übergießen und an
einem dunklen Ort zwei Wochen ziehen lassen. Dem Kranken morgens 100 ml dieses
Suds verabreichen, gefolgt von 100 ml Wodka. Die Prozedur mittags wiederholen.
Abends dem Kranken nur 100 ml Wodka verabreichen, worauf sich Erbrechen
einstellen sollte. Wiederum Wodka verabreichen, 200 bis 300 ml, Erbrechen
sollte sich wiederholen. Sobald der Kranke Wodka ablehnt, unter Zwang 100 ml
Haselwurzsud einflößen.
    (Rezept zur Behandlung von Alkoholismus,
Tatjana Lagutina, 2006)
     
    Tränen netzten das Antlitz des
Menschensohnes.
    Die vorherbestimmte Erleuchtung hatte
sich erfüllt!
    (Das Letzte Testament, Buch 1, Kapitel 6, Vers 69)

Transsibirische Schokolade
    Als ich morgens aufwachte, war Moskau bereits eine ferne
Erinnerung. Im Bilderrahmen des Zugfensters hing ein Gemälde von monochromer
Strenge, aus dem die nächtliche Fahrt jedes städtische Element getilgt hatte.
Bleichgelbes Steppengras nahm die untere Bildhälfte ein, steingrauer Himmel die
obere, scharf geteilt von der Messerklinge des Horizonts. Nur hin und wieder
zogen Birken durchs Bild, Strohhalme in der Uferlosigkeit Eurasiens.
    Ich war sehr früh aufgewacht. Fast der gesamte Waggon schlief noch,
allein mein graubärtiger Abteilnachbar nickte mir einen stummen Morgengruß zu.
Er saß lesend am Fenster. Sein Buch hieß »Die Mörderin mit den zärtlichen
Augen«.
    Die Schaffnerin brachte mir Tee. Ich blies kühlend über den Rand des
Glases, während sich mein morgenstarrer Blick in der Unendlichkeit hinter dem
Zugfenster verhakte.
    »Sumpf und Gras und Birken«, sagte der Bärtige, der meine Gedanken
erriet. »Bis kurz vor Nowosibirsk wirst du nichts anderes sehen. Wenn du so
weit fährst.«
    »Weiter. Bis

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