Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
Vom Netzwerk:
Krasnojarsk.«
    »Ich bin aus Nowosibirsk. Und du – bist nicht von hier?«
    »Aus Deutschland.«
    Er pfiff leise durch die Zähne. »Du hast den längeren Weg.«
    Es begann der rituelle Handel, den ich so oft in russischen Zügen
erlebt habe: deine Lebensgeschichte gegen meine.
    Wolodja war gebürtiger Sibirier. Er unterschied drei Gattungen von
Russen: Stadtmenschen, Steppenmenschen, Waldmenschen. Für die ersten beiden
hatte er wenig übrig. Seine eigene Welt begann da, wo sich dem gräsernen Meer
der Steppe die ersten Nadelwälder entgegenstemmen. In den hölzernen Labyrinthen
der Taiga verbrachte Wolodja jeden freien Tag. »Die Leute erzählen mir immer,
was sie alles im Urlaub erleben, in der Türkei, auf der Krim, in Europa. Wer
braucht das? Gib mir ein Zelt und eine Flinte, und ich bin glücklich.«
    Er presste ein unsichtbares Gewehr an die Schulter und zielte aus
dem Zugfenster. Lautlose Schüsse erschütterten seinen Körper, unsichtbare
Tierkadaver blieben auf der Strecke.
    Der Zug war nicht Wolodjas bevorzugtes Verkehrsmittel – im Herzen
war er Motorist. Früher, zu Sowjetzeiten, war er Autorennen gefahren. Er zeigte
mir Fotos seiner Maschinen: umgebaute Ladas, aufgemotzte Schigulis,
zusammengeschweißt aus Teilen, die Wolodja und seine Rennsportgenossen der
sozialistischen Produktion entwendeten. Als Mechaniker hatten sie damals in
einem Nowosibirsker Landmaschinenkombinat gearbeitet. »Man zahlte uns das
Minimalgehalt, wir machten minimale Arbeit. Die Traktoren interessierten uns
einen Dreck, wir brauchten nur die Werkzeuge, die Ersatzteile. Es war alles da,
wir mussten nur zugreifen. Niemand überprüfte uns, niemand stellte Fragen.
Himmlische Zeiten waren das!«
    Die Zeiten aber, in denen Wolodja noch selbst Rennwagen gelenkt
hatte, waren lange vorbei. »Ich bin zu alt«, sagte er bedauernd. »Ich verstehe
den Sport nicht mehr. Alles ist schwieriger geworden, ohne Geld ist nichts mehr
zu machen. Wenn ich heute ins Kombinat gehe und sage: Kinder, fräst mir eine
Stoßstange, dann heißt es: Wolodja, bring uns Material zum Fräsen.« Er lachte
ein kurzes, trockenes Lachen. »Marktwirtschaft.«
    Inzwischen arbeitete er als Trainer. Er zeigte mir Fotos der Fahrer,
die er in Nowosibirsk ausbildete: Jungs mit kurzgeschorenen Köpfen, die meisten
kaum volljährig. Mit väterlicher Zärtlichkeit kommentierte Wolodja die Fotos. »Maxim,
guter Junge, aus dem wird mal was.« – »Hier, Sascha, der hat das Fahren im
Blut.«
    Als Trainer arbeitete Wolodja ehrenamtlich, sein Geld verdiente er
als Spediteur. Mit seinem LKW transportierte er
Rennwagen von einem Wettbewerb zum nächsten. Gerade kam er aus Moskau, seinen
Transporter hatte er bis zum nächsten Rennen dort gelassen, in ein paar Wochen
würde er ihn wieder abholen. Wenn gerade kein Wettbewerb stattfand, spedierte
er Baumaterial, Möbel, Autos, was immer gerade anfiel. Demnächst stand ein
Umzug an, Wolodja würde den Hausrat eines Freundes quer durch Russland
transportieren. »Seine Frau will unbedingt im Süden leben. Jetzt ziehen sie ans
Schwarze Meer.« Wolodja schüttelte verständnislos den Kopf. »Was hat ein
Sibirier am Schwarzen Meer zu suchen? Mein Freund will eigentlich nicht, aber
die Frau liegt ihm ständig in den Ohren: das Klima, das Klima. Ich verstehe
nicht, was mit unserem Klima nicht stimmt. Unsere Sommer sind echte Sommer,
unsere Winter echte Winter. Am Schwarzen Meer gibt es ja nicht mal Schnee. Die
Frau sagt: Ich brauche keinen Schnee, ich konnte Schnee nie leiden. Sie wird
schon noch merken, was das bedeutet, ein Leben ohne Schnee. Das ist nichts für
Sibirier.«
    Er fragte mich nach dem Ziel meiner Reise. Als ich von Agafja Lykowa
erzählte, nickte Wolodja, er kannte die Geschichte.
    »Die Taiga zieht die Menschen an«, sagte er. »Mein Vetter arbeitet
bei der Miliz. Letzten Sommer wurde er in die Wildnis geschickt, ein Jäger
hatte mitten im Wald eine Leiche gefunden. Er brauchte eine Woche, um sich zu
der Stelle durchzuschlagen. Am Ende fand er eine kleine Holzhütte. Drinnen lag
ein alter Mann, zerfressen von Insekten, der Bart ging ihm bis zur Brust. Die
Hütte war fast leer, man fand nur Tierfallen und getrocknetes Fleisch. Keiner kannte
den Kerl. Niemand weiß, wie lange er dort alleine gelebt hat.« Wolodja ließ die
Geschichte wirken, dann lachte er sein trockenes Lachen. »Sibirien!«
    Während wir redeten, geriet der Waggon in Bewegung. Blau-weiße Laken
glitten von schlafzerknautschten Körpern, Wäscheberge

Weitere Kostenlose Bücher