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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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für Stück rangen sie das Land den tatarischen
Stämmen ab, die es seit dem Zerfall des mongolischen Imperiums beherrschten. Sibir nannten die Tataren ihr Reich: »schlafendes Land«. Die Kosaken, die das
turksprachige Wort übernahmen, weckten Sibirien mit Gewalt. Als sie 1639, keine
sechzig Jahre nach dem Beginn des Feldzugs, den Pazifik erreichten, war
Russlands Grenze um mehr als fünftausend Kilometer Richtung Osten gewandert.
Jedes Jahr hatte sich das ohnehin riesige Zarenreich eine Fläche vom Ausmaß
Großbritanniens einverleibt.
    Sibiriens Proportionen haben etwas Furchteinflößendes. Gegen Abend,
als der Waggon im Schlaf versank, lag ich auf meiner Pritsche und starrte
verloren in das dunkle, endlose Nichts hinter dem Fenster. Seit vierundzwanzig
Stunden war ich unterwegs, und wir hatten noch nicht einmal den Ural erreicht.
Ich wusste, dass Sibirien, wenn man es von Westrussland abtrennen würde, noch
immer das mit Abstand größte Land der Welt wäre. Jeder Versuch, es zur Gänze zu
erfassen, kam mir plötzlich anmaßend vor, und jede Stichprobe beliebig.
Deprimiert zog ich mir die Bettdecke über den Kopf und dachte an Agafja Lykowa.
Es war beruhigend, ein Ziel zu haben, so schwer es auch zu erreichen sein
mochte.
    Mitten in der Nacht wachte ich auf, ohne zu wissen, warum. Als ich
auf die Uhr sah, wurde mir klar, dass der Zug gerade den Ural passieren musste,
die Grenze zwischen Europa und Asien. Vor der Abfahrt hatte ich lange nach
einem Zug gesucht, der diese magische Schwelle bei Tageslicht queren würde,
aber ich hätte mehrfach umsteigen müssen und hatte den romantischen Gedanken
schließlich aufgegeben. War ich deshalb nun aufgewacht?
    Ich schob die Gardine zur Seite und starrte angestrengt aus dem
Fenster. Im Licht eines schwächelnden Sichelmonds konnte ich die Umrisse
niedriger Hügelketten erkennen, mehr nicht. Der Ural ist kein Hochgebirge. An
den meisten Stellen taugt er kaum als Aussichtspunkt, geschweige denn als kontinentale
Barriere. Ein vergessener Kartograf, der keine plausibleren Landmarken fand,
hat ihn zur Nahtstelle des siamesischen Zwillingskontinents Eurasien erklärt.
Unter meinen sinnlos suchenden Blicken offenbarte diese Grenzziehung ihre ganze
Willkür. Eine halbe Stunde lang wartete ich ungeduldig auf eine Veränderung,
die nicht eintreten wollte. Ein Erdteil blieb zurück, ein anderer kam unter die
Räder, und zwischen immer gleichen Birken rollte der Zug ereignislos weiter.
Nichts endete, nichts begann. Europa und Asien weigerten sich, ihren ewigen
Ehekrach vor meinen Augen auszutragen.
     
    Die Landschaft blieb am nächsten Tag die gleiche, nur gab
es jetzt mehr davon. Immer seltener unterbrachen Städte oder auch nur Dörfer
die Monotonie der sumpfigen Wiesen. Wenn Häuser auftauchten, klammerten sie
sich dichtgedrängt an den Bahndamm, als hätten sie Angst vor der Leere in ihrem
Rücken. Mitunter konnte ich kaum glauben, dass wir den bevölkertsten Teil
Sibiriens durchquerten, dass die echte Leere erst ein Stück nördlich der Trasse
beginnt, wo das Klima keinen Ackerbau mehr zulässt, wo nur noch Nadelwälder
wachsen, und irgendwann selbst die nicht mehr.
    An jeder Haltestelle umringten alte Frauen die Waggons, sie
verkauften Teigtaschen, Salzkartoffeln, Bier, getrockneten Fisch. Ich hatte
keinen Proviant mitgenommen und verließ mich auf ihre regelmäßigen Lieferungen.
Als die Haltestellen seltener wurden, verschätzte ich mich mit den Mahlzeiten
und musste einen halben Tag mit einer Tafel Schokolade überbrücken, Marke Aljonka.
Auf der altmodischen Verpackung war ein ernstes Mädchengesicht mit
aufgerissenen Augen abgebildet. In Moskau hatte ich mich immer gefragt, warum
die kleine Aljonka auf dem Bild so verschreckt aussieht. Bis Wanja es mir eines
Tages erklärte: »Sie hat Angst vor Stalin.« Seitdem hatte ich eine Schwäche für
die Marke.
    »Du isst russische Schokolade«, sagte Wolodja. Es war eine
Feststellung, keine Frage.
    »Du nicht?«, fragte ich.
    »Doch. Nichts anderes. Eure deutsche Schokolade mag ich nicht. Ich
weiß noch, damals, in der Perestroika, als in Russland all diese Sachen aus dem
Westen auftauchten, da haben wir alle nur noch Snickersy und Marsy und Raidery gegessen.« Er sprach die ausländischen Namen voller Abneigung aus. »Es hat
Jahre gedauert, bis wir gemerkt haben, dass dieses Zeug überhaupt nicht nach
Schokolade schmeckt. Ein Glück, dass man inzwischen wieder Aljonka kaufen kann.
Und Roter Oktober! Hast du Roter Oktober

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