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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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verwandelten sich in
Menschen. Grußworte wurden gemurmelt, unbekannte Bettnachbarn verstohlen
gemustert, vor der Toilette formierte sich eine Prozession gezückter
Zahnbürsten. Kollektiv erwachte unsere transsibirische Schicksalsgemeinschaft
und rüstete sich für einen Tag ausdauernden Nichtstuns.
    Gegen Mittag kannte ich in groben Zügen die Reiseziele und
Lebensgeschichten aller meiner unmittelbaren Nachbarn. Mascha (Moskau-Irkutsk)
hatte einen Mann am Baikalsee und einen in der Hauptstadt; der Sibirier trank,
war aber der bessere Liebhaber, der Moskauer hatte Geld, aber keine Seele.
Sergej (Jaroslawl-Jekaterinburg) verkaufte Edelsteine aus den Bergwerken des
Urals und ließ seinen Vertreterkoffer keine Sekunde aus den Augen. Tamara (Moskau-Tscheljabinsk)
war Polizistin; im Berufsleben löste sie Kriminalfälle, im Zug Kreuzworträtsel.
Sonja (Kiew-Tscheljabinsk) studierte Deutsch und begriff den Unterschied
zwischen »das Gleiche« und »dasselbe« nicht. »Die Birken hinter dem Fenster«,
erklärte ich, »sind die gleichen wie gestern, aber nicht dieselben.« Sonja
nickte erleuchtet. »Ist Wort für Bäume, ja?«
    Nachmittags döste ich kurz ein. Als ich wieder zu mir kam, war ich
mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich die Birken hinter dem Fenster wirklich
zum ersten Mal sah. Die Monotonie der Landschaft war irritierend. Hatte sich
der Zug überhaupt bewegt, während ich geschlafen hatte? Oder rollte nur die
immergleiche Landschaftskulisse an den Fenstern vorbei, wie es 1900 bei der
Weltausstellung in Paris gewesen war, als die Transsib zum ersten Mal einer
staunenden Öffentlichkeit vorgestellt wurde?
    Die glamourösen Luxuswaggons, durch die damals die Pariser
Gesellschaft flanierte, kamen in der transsibirischen Realität nie zum Einsatz.
Weitaus schlichtere Modelle pendelten zwischen Moskau und Wladiwostok, als die
Trasse 1904 fertiggestellt wurde. Den ersten symbolischen Spatenstich hatte
dreizehn Jahre zuvor an der Pazifikküste ein kleiner Junge namens Nikolaj
gesetzt, nicht ahnend, dass er sich sein eigenes Grab schaufelte – drei
Jahrzehnte später rollte Zar Nikolaj II. in einem Waggon der Transsib nach
Jekaterinburg, seiner Hinrichtung entgegen.
    Bevor die Trasse in Betrieb genommen wurde, verband Sibirien mit dem
russischen Westen nur ein holpriger, unbefestigter Feldweg, der den Großteil
des Jahres über kaum befahrbar war – im Winter erschwerte Schnee die Reise, im
Frühling Matsch, im Sommer Staub. Der Zusammenhang zwischen beiden Landesteilen
war lose, geografisch wie mental. Noch in den Reisenotizen Tschechows, der die
eurasische Landmasse kurz vor dem Bau der Bahntrasse im Pferdewagen
durchquerte, sprechen die Einwohner Sibiriens über Russland, als handele es
sich um ein anderes, fernes Land. Genauso dürfte sich die endlose Fahrt über
den sibirischen Trakt auch angefühlt haben.
    Trotz aller Strapazen aber war die Straße zu Tschechows Zeiten
hoffnungslos überfüllt. Jahr für Jahr ergoss sich, seitdem 1861 die
Leibeigenschaft abgeschafft worden war, ein Strom landsuchender Bauern in die
Weiten Sibiriens. Auf Pferdewagen transportierten die Menschen ihre gesamte
Habe ostwärts, Tausende von Kilometern weit. Es kam vor, dass sie am Zielort
ehemaligen Nachbarn in die Arme liefen, die schon Jahre zuvor aus der
Leibeigenschaft geflohen waren, um ihr Glück in Sibirien zu suchen. Seit
Jahrhunderten hatten die dünn besiedelten Gebiete östlich des Urals Menschen
angezogen, die sich dem Zugriff des Staats entziehen wollten. Entlaufene
Leibeigene tauchten in Sibirien unter, gesuchte Kriminelle, entflohene
Sträflinge, gestrauchelte Mädchen, entehrte Männer, uneheliche Kinder. Die
Altgläubigen waren die berühmteste, aber nicht die einzige Gemeinschaft von
Sektierern, die tief in der Wildnis auf die Apokalypse warteten. Sie teilten
ihr Exil mit all jenen Verfemten, Verbannten und Verrückten, die der Staat
selbst Richtung Osten verfrachtete, damit sie im russischen Kernland keinen
Schaden mehr anrichteten.
    Noch ein bisschen früher hatte es nicht einmal eine Straße nach
Sibirien gegeben. Als im 16. Jahrhundert die ersten Kosakenverbände den Ural
passierten, schleppten sie demontierte Ruderboote über die Berge. Sibirien
wurde zu Wasser erobert. Die Kosaken nutzten das verzweigte Flusssystem, das
die gesamte Landmasse zwischen Moskau und dem Pazifik durchzieht. Von der Wolga
arbeiteten sie sich zur Kama vor, vom Irtysch zum Ob, vom Jenisej zur Angara,
von der Lena zum Amur. Stück

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