Mein russisches Abenteuer
er hier, und deshalb hatte er die
Frau und das Kind daheim in Tscheljabinsk sitzen lassen, weil die nicht
mitwollten auf den Berg.
Und als Sascha geendet hatte, begann Elvira zu reden, die in einem
Zugabteil geboren worden war in Deutschland im Krieg, und dann wurde sie
Mathematiklehrerin in der Sowjetunion und die größte Atheistin aller Zeiten,
und eines Tages gab man ihr ein Buch, und in dem Buch war ein Foto, und Elvira
sah den Mann auf dem Bild und dachte, du liebe Güte, das ist ja der Herrgott,
und sie ging auf den Berg.
Und als Elvira geendet hatte, begann Janis zu reden, der Lette, der
eine Import-Export-Firma in Hamburg gehabt hatte, und eines Tages hatte einer
seiner Fahrer einen Unfall, und im Krankenhaus hielten sie ihn drei Wochen am
Leben, und als er starb, hatte die Firma eine halbe Million Euro Schulden für
Medikamente und keine Versicherung, und Janis verkaufte die Firma und zahlte
die Schulden und nahm es hin, es war Schicksal, und er ging auf den Berg.
Und zu reden begann Sergej, der einst Oberst gewesen war bei den
sowjetischen Raketentruppen, und seine Tage waren gefüllt mit dem Werk der
Vernichtung, und in den Nächten suchte er Frieden, und er las die
Schriftsteller und die Philosophen, die Mystiker und die Materialisten, die
Gurus und die Ufologen, die Suren und die Veden, das Alte Testament und das
Neue, und ganz zum Schluss las er das Letzte Testament, und da erst verstand
Sergej, und er ging auf den Berg.
Und Iwan aus Weißrussland begann zu reden und Grigor aus Bulgarien und
Hermann aus Bayern und Wladimir aus Kasachstan, und alle saßen sie gemeinsam
auf der Ladefläche eines rostigen Kleinlasters, und sie kamen aus vielen
Ländern, und es einte sie ein Ziel: der Berg. Denn es steht geschrieben im
Letzten Testament, Buch 3, Kapitel 10, Vers 6: Und zum Lehrer kamen viele, die in
diesem Land lebten, und neu Zugezogene.
Die Biografie des Mannes, der die Biografien meiner Mitreisenden
derart umgekrempelt hatte, ist bestens dokumentiert. Zum Zeitpunkt meiner
Reise, im Jahr 50 der Ära der Morgendämmerung, füllte sie neunzehn Bände, ein
weiterer kam jedes Jahr hinzu. In Petropawlowka hatte man mir den ersten Band
in die Hand gedrückt, und als meine Mitreisenden ihre Erleuchtungsgeschichten
ausgeschöpft hatten, schlug ich das Letzte Testament auf und begann zu lesen.
Einst,
am 14. Januartag 1961, ging die vorbestimmte Geburt vonstatten. Nach dem Willen
des Großen Schöpfers wussten die Eltern nichts von dem Wesen des ihnen
erschienenen Kindes und gaben dem Kleinen den Namen Sergej. ( LT 1,1,1-2)
Sergej Anatoljewitsch Torop war das einzige Kind eines sibirischen
Bauarbeiters. Das Letzte Testament beschreibt den Vater als einen
rechtschaffenen, wenn auch gottlosen Mann, der seinen Sohn früh in die Obhut
der Großmutter gab. Bei ihr wuchs Sergej auf, fern der Heimat, am Schwarzen
Meer. Der südliche Sternenhimmel verband sich in seiner Erinnerung mit der
Stimme der Großmutter, die abends, wenn beide gemeinsam im Gras lagen,
flüsternd den Schöpfer des Firmaments pries.
Sergej wurde ein sanftes, ein träumerisches Kind. Er malte. Ein
frühes Porträt der Großmutter beim Kartoffelschälen fand weithin Lob für seine
detailgetreue Darstellung. Als Sergej sieben Jahre alt war, ging die Ehe der
Eltern in die Brüche, und seine Mutter holte ihn heim nach Sibirien, in die
Provinzstadt Schuschenskoje. Unklar ist, ob es die Trennung von der Großmutter
war oder ein genereller Hang zur Melancholie, der Sergejs Schulzeit
überschattete. Er litt. Die Träume seiner Klassenkameraden waren ihm fremd. Sie
strebten Berufe an, die Sergej zuwider waren, sie suchten Anerkennung in einer
Gesellschaft, mit der ihn nichts verband.
Er wurde zum Einzelgänger. In seinem Zimmer, in der Wohnung der
Mutter, schuf er sich seine eigene Welt, die er erst mit Glaskolben und
Reagenzgläsern füllte, später mit Sportgeräten, um am Ende wieder bei den
Malutensilien seiner Kindheit zu landen. Nach der zehnten Klasse verließ er die
Schule. Statt Arbeit zu suchen, malte er. Die Mutter verlor zunehmend die
Geduld mit ihm. Als Sergej mit Mitte zwanzig immer noch bei ihr lebte, stellte
sie ihm ein Ultimatum: Jobsuche oder Rausschmiss. Sergej wurde
Verkehrspolizist, aber nur, weil ihm die Arbeitszeiten gefielen:
Spätpatrouille, Abend bis Mitternacht, Träumen unterm Sternenhimmel.
Im
Sommer 1989 aber ging jede Berührung mit den schmutzigen Wegen der menschlichen
Gesellschaft ihrem Ende entgegen. Denn etwas
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