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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Universum. In Moskau stieg Boris Jelzin auf einen
Panzer und rief zum Widerstand gegen den Putsch der Kommunisten auf. In
Sibirien trat am gleichen Tag Sergej Torop vor eine Menschenmenge und gab sich
als Sohn Gottes zu erkennen. Im Nachhinein ist schwer zu sagen, welches das
größere Ereignis war: In Moskau wurde gegen die Perestroika geputscht, in
Sibirien gegen die Apokalypse.
    Sergej nannte sich fortan Wissarion Christus, und er begann, Jünger
um sich zu sammeln. Er sammelte sie zunächst in seiner Heimatstadt, doch bald
schon strömten verlorene Schafe aus allen Teilen des krisengeschüttelten Landes
nach Sibirien. Als die Stadt zu eng wurde für die junge Gemeinde, führte
Wissarion seine Jünger hinaus in die Wildnis, hinein in die Taiga – hinauf auf
den Berg.
    Es
begannen die schweren, anstrengenden Tage des Baus der Zukunft im sibirischen
Land. ( LT 3,10,4)
     
    Auf halber Höhe des Berghangs verstummte das Keuchen des
Motors abrupt, und der Wagen entlud seine Pilgerlast. Die schlammige Straße
endete, weiter ging es nur zu Fuß. Zwei Stunden lang folgten wir einem schmalen
Pfad, der sich zwischen dicht gedrängten Zirbelkiefern bergauf schlängelte.
Anemonen und Schlüsselblumen säumten den Weg, geweckt von der Frühlingswärme,
genau wie die Insekten. Sie waren überall. Mehrfach mussten wir Halt machen, um
uns gegenseitig Zecken aus der Haut zu drehen. Mücken attackierten uns in dichten
Schwärmen, zielgerichtet und unnachgiebig wie eine biblische Plage.
    Eine Weile lief ich neben einem Veteranen her, der in den frühen
Neunzigerjahren den Exodus der Gemeinde miterlebt hatte. Stepan war keine
fünfzig, aber die Härten der Taiga hatten ihn vorzeitig altern lassen, sein
Körper war sehnig und ausgemergelt wie der eines Greises. Er erzählte, wie die
Jünger in den Anfangsjahren bei vierzig Grad Frost in Zelten geschlafen hatten,
wie sie den Berggipfel mit Äxten rodeten, weil Wissarion sie gelehrt hatte,
dass Motorsägen das Gleichgewicht der Natur störten.
    Während er redete, versuchte ich verzweifelt, mir die Mücken vom
Leib zu halten. Stepan schien sie kaum zu bemerken. Aber das täuschte. »Man
gewöhnt sich nie an sie«, sagte er lächelnd. »Man gewöhnt sich nur daran, dass
man sich nicht an sie gewöhnt.«
    Im Stillen entschied ich mich für den Weltuntergang. Lieber ein Ende
mit Schrecken, dachte ich, als dieses endlose Mückenmartyrium. Wissarion musste
ein bemerkenswert charismatischer Mann sein, wenn er seine Jünger für ein Leben
in dieser lebensfeindlichen Welt begeistert hatte. Der träumerische
Verkehrspolizist aus dem Letzten Testament war noch frisch in meiner
Erinnerung, und es fiel mir schwer, ihn in Stepans Erzählungen
wiederzuerkennen.
    Am späten Nachmittag erreichten wir die Heimstatt der
Morgendämmerung.
    »Die was?«
    »Heimstatt der Morgendämmerung«, wiederholte Stepan. »Das Herz der
Gemeinde.«
    Wir standen am Rand einer großen, gerodeten Lichtung knapp unterhalb
des Berggipfels. Etwa achtzig Holzhäuser verteilten sich lose über das Gelände,
viele von ihnen verziert mit fantastischen Dachkonstruktionen. Ich ließ den
Blick schweifen. Hinter den Kuppeln und Spitzen und Türmen reichten unberührte
Kiefernwälder bis an den Horizont. Greifvögel kreisten schwerelos über den
Hängen, ein Stück unterhalb der Lichtung leuchtete das kalte Blau eines
Bergsees. Für einen kurzen Moment vergaß ich die Mücken. Wessen Sohn auch immer
hier lebte, der himmlische Vater meinte es gut mit ihm.
    Für den nächsten Tag war, wie jeden Sonntag, ein Treffen Wissarions
mit seinen Jüngern vorgesehen. Über Nacht quartierte man mich bei einem jungen
Paar ein. Ruslan kam aus Lenins Geburtsstadt Uljanowsk, Lisa aus Tschajkowskijs
Geburtsstadt Wotkinsk, kennengelernt hatten sie sich in der Heimstatt der
Morgendämmerung.
    Im Lauf eines wissarionitischen Abendmahls (kein Fleisch, keine
Milchprodukte, kein Alkohol) erzählten sie mir ihre Geschichte. Lisas Eltern
waren sowjetische Atheisten, Ruslan kam aus einer Familie tatarischer Muslime.
Beide hatten das Letzte Testament gelesen, ohne je mit dem Alten oder dem Neuen
in Berührung gekommen zu sein. Ob Wissarion der wiedergekehrte Christus war,
schien sie kaum zu beschäftigen – für sie war er »der Lehrer«, wie sie ihn
nannten.
    »Er lehrt uns, wie Menschen zusammenleben können, ohne sich
gegenseitig zu verletzen.«
    Ruslan hatte bis vor ein paar Jahren als Programmierer gearbeitet.
Sein ehemaliger Chef hatte ihm eines Tages

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