Mein russisches Abenteuer
ihm.
Die Linguistin trug zwei Schals und drei Jacken übereinander. Im
Krasnojarsker Literaturmuseum war die Heizung ausgefallen, und die
Frühlingssonne hatte es noch nicht geschafft, den Winter aus der dunklen
Holzvilla zu vertreiben. Galina Alexandrowna war eine kleine, schmale Frau in
den Vierzigern. Sie sprach so gehetzt, dass die Atemwölkchen vor ihrem Mund
klarer konturiert waren als ihre Sätze.
Sie zeigte mir Kopien von Briefen, die Agafja Lykowa an entfernte
Verwandte geschrieben hatte. Fasziniert betrachtete ich die großen
kirchenslawischen Lettern, mehr Gemälde als Buchstaben, die in unregelmäßigen
Reihen die Seiten füllten. Wie in den liturgischen Büchern, die ich in Moskau
gesehen hatte, reihten sich die Wörter ohne Satzzeichen aneinander. Ich hatte
Mühe, die Handschrift zu lesen, aber mit Galina Alexandrownas Hilfe entzifferte
ich die Eröffnungsformel, die jedem Brief vorangestellt war.
HERR JESUS CHRISTUS SOHN GOTTES ERBARME
DICH UNSER AMEN DIES SCHRIEB AGAFJA KARPOWNA AM VIERZEHNTEN DEZEMBER DES JAHRES
SIEBENTAUSEND FÜNFHUNDERT UND NEUN EINE TIEFE VERBEUGUNG
Fragend sah ich Galina Alexandrowna an. »7509?«
»Seit der Erschaffung der Welt. Die Altgläubigen zählen bis heute
so. Das war einer der Aspekte meiner Doktorarbeit.«
»Sie haben über Altgläubige geschrieben?«
Ȇber altritualistische konfessionelle Lexik im schriftlichen
Ausdruck Agafja Lykowas.«
»Ah.«
»Wissen Sie, diese Frau ist von unschätzbarem Wert für die
linguistische Forschung. Stellen Sie sich ein Sprachindividuum vor, dessen
semantisches Bewusstsein sich in einem vollkommen hermetischen Mikrosozium
formiert! Erst als Erwachsene ist sie mit Trägern normativer Idiolekte in
Kontakt gekommen! Ich muss Ihnen nicht erklären, welche lexikalischen
Erschütterungen ein solcher Schock auslöst?«
»Äh …«
»Ich wünschte, ich könnte sie noch einmal besuchen. Es gibt so viele
offene Fragen! Ihre Anthroponyme! Die Varietäten ihrer Sakrallexik …«
»Was hält Sie davon ab, sie zu besuchen?«
Galina Alexandrowna seufzte. »Es ist zu schwierig. Seit die
Geologensiedlung geschlossen wurde, kommt man nur noch zu Fuß hin. Einmal habe
ich das gemacht, aber nur, weil ich naiv war und die Taiga unterschätzt habe.
Es war lebensgefährlich. Ein zweites Mal werde ich das nicht tun.«
Erfolglos suchte ich nach den vier Geologen, die die
Lykows 1978 in der Taiga entdeckt und als Erste mit ihnen gesprochen hatten.
Das wenige, was ich über ihr Schicksal erfuhr, klang wie ein nachtschwarzer
Witz über Sibiriens Härten. Einer hatte sich zu Tode gesoffen. Zwei waren im
Chaos der Nachwendezeit spurlos verschwunden. Die vierte, eine Frau, war bei
einer Taiga-Expedition ums Leben gekommen. Ein Bär hatte sie getötet.
Krasnojarsk tut den Augen weh. Besonders, wenn man die
Stadt von oben betrachtet. Ein flacher, unbebauter Berg erhebt sich über der
Stadtsilhouette. Man kann auf die Kuppe steigen und nach der »besten und
schönsten aller sibirischen Städte« Ausschau halten, die Tschechow beschrieben
hat. Es gibt sie nicht mehr. Ein industrieller Teppich aus Werkhallen und
rauchenden Schornsteinen hat sie unter sich begraben. Das alte Krasnojarsk fiel
einem Krieg zum Opfer, der viertausend Kilometer weiter westlich tobte. Als die
Deutschen auf Moskau vorrückten, ließ Stalin in Westrussland ganze Fabriken
demontieren und im sibirischen Hinterland wieder aufbauen. Bis heute verdunkeln
ihre Abgase den Himmel über Krasnojarsk.
Schön ist die Stadt da, wo sie den Blick nach unten zieht, weg vom
Himmel. Am Friedensprospekt steht ein kleines Denkmal für Puschkin, den
Wahl-Europäer, der nie in Krasnojarsk war, was die Statue umso rührender macht.
Ein paar alte Holzvillen sind im Zentrum übrig geblieben, Zeugen einer besseren
Zeit, oder jedenfalls einer weniger grauen. Der Jenisej reißt eine gigantische
Schneise in die Stadt, ein Fluss wie aus silberner Lava, die sich mit majestätischer
Trägheit dem Eismeer entgegenwälzt.
Auf einer Parkbank im Stadtzentrum dachte ich über weitere Schritte
nach. Den alten Mann, der neben mir Platz nahm, bemerkte ich erst, als er mich
ansprach.
»Was glauben Sie, wie alt ich bin?«, fragte er.
»Fünfzig«, log ich. In meinen Augen sah er aus wie sechzig, aber
russische Männer wirken meist älter, als sie sind. Beim Raten zog ich immer ein
paar Jahre ab. Diesmal lag ich völlig daneben.
»Siebzig!«, rief er triumphierend. »Ich bin siebzig! Und meine
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