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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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»Sieh dich doch mal um!«
    Links und rechts der Trasse leuchtete das unverkennbare Grün der
Pinus sibirica.
    »Wenn hier jemand einen Baum braucht, geht er in den Wald und gräbt
sich einen aus. Egal, wem der Wald gehört, egal, ob er unter Naturschutz steht,
egal, ob noch drei andere Bäume mit draufgehen, egal! Gehört doch alles dem
Volk!«
    Eine Falte scheitelte seine Stirn. Die Wut kehrte zurück.
    »Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis dieses Denken
endlich aus den Köpfen raus ist. Jahrzehnte wahrscheinlich. Und bis dahin wird
nichts mehr von der Taiga übrig sein. Sie wird ausgeplündert. Die Leute gehen
mit der Motorsäge in den Wald, laden sich den LKW voll und verkaufen das Zeug nach China. Die Miliz steht daneben und kassiert
Schmiergelder. Das ist Wladimirs Planwirtschaft! Jeder beklaut jeden, und am
Ende bleiben wir alle arm.«
    Ich musste ein Lachen unterdrücken. Das Drama der Väter und Söhne,
dachte ich, ist ein Drama der Spiegel und Echos.
     
    Im Wohnheim der Krasnojarsker Universität überredete mich
die Rezeptionistin, mir ein Zimmer mit einem jungen Soldaten zu teilen. »Er ist
fremd in der Stadt. Genau wie Sie. Da finden Sie doch bestimmt Gesprächsstoff.«
    Wir fanden Gesprächsstoff. Schenja war Armeebuchhalter und kam aus
Nowosibirsk. Man hatte ihn für ein paar Wochen nach Krasnojarsk abkommandiert,
um die Finanzen der örtlichen Kasernen zu überprüfen. Die örtlichen Kasernen
gaben sich alle Mühe, Schenja vom Überprüfen abzuhalten, weshalb er seit Tagen
nicht mehr richtig nüchtern gewesen war. Außerdem war er, wie er beiläufig erwähnte,
altgläubig.
    Ich war sprachlos. Mit ein paar Sätzen hatte Schenja alle meine
angelesenen Vorstellungen über die Altgläubigen widerlegt. Er arbeitete für den
Staat? In der Armee? Als Buchhalter? Er trank? Irritiert suchte ich nach
irgendeinem Merkmal des weltabgewandten, kriegsdienstverweigernden,
geldverachtenden, abstinenten Vollbartträgers meiner Fantasie – aber da war nur
glanzlose, glattrasierte Realität.
    Schenja lachte. »Das ist alles längst vorbei«, sagte er. »Früher war
es streng bei uns, aber heute …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir
leben schließlich in der Welt. So, wie du dir das vorstellst, kann man nur im
Wald leben. Wie deine Agafja Lykowa.«
     
    Ich war nach Krasnojarsk gekommen, weil ich drei Menschen
suchte, von denen ich gelesen hatte, dass sie Agafja Lykowa in der Taiga
besucht hatten: ein Fotograf, ein Arzt, eine Linguistin.
    Den Fotografen fand ich zuerst. Er hieß Walerij und hatte einen
langen weißen Vollbart, den er vehement schüttelte, als ich fragte, ob er
Altgläubiger sei. »Um Gottes willen, nein! Wodka?« Wir tranken die halbe Nacht.
    Walerij erzählte von Agafja. Er hatte sie nur ein einziges Mal
getroffen, vor langer Zeit. »Wenn ich könnte, würde ich jedes Jahr hinfahren.
Aber es ist zu schwierig geworden. Früher gab es in der Nähe ihrer Hütte eine
Geologensiedlung, aber die wurde vor zwanzig Jahren aufgelöst. Seitdem kommt
man kaum noch hin. Du brauchst einen Hubschrauber. Oder gesunde Beine. Ich habe
keins von beiden.«
    Den Arzt fand ich in einer Krasnojarsker Poliklinik. Doktor Igor
Nasarow bestätigte mir, was ich gerüchteweise über den Tod von Agafjas drei
Geschwistern gehört hatte. »Grippe«, sagte er. »Simple Grippeviren,
eingeschleppt aus der Außenwelt. Die Lykows hatten keine Abwehrkräfte gegen
solche Krankheiten, weil sie in der Taiga nicht vorkommen. Als die Geologen bei
ihnen auftauchten, starben sie wie die Fliegen.«
    Überlebt hatten nur Agafja und ihr Vater. Beide hatte Doktor Nasarow
mehrere Male besucht. Seit dem Tod des Vaters jedoch war er nur noch ein einziges
Mal bei Agafja gewesen, und auch dieser Besuch lag inzwischen fünfzehn Jahre
zurück.
    »Sie wollen zu ihr?«, fragte er.
    Ich nickte.
    »Das wird schwierig. Sie brauchen …«
    »… einen Hubschrauber?«
    »Genau. Oder eine robuste Physis.«
    Doktor Nasarows Physis war beeindruckend robust, für einen
Achtzigjährigen. Aber der Weg in die Taiga überstieg seine Kräfte. Er schien
sich damit abgefunden zu haben, dass er Agafja in diesem Leben nicht mehr sehen
würde. Als wir uns verabschiedeten, bat er mich um einen Gefallen. »Falls Sie
es wirklich schaffen, bringen Sie ihr doch bitte ein Geschenk von mir mit.« Er
drückte mir einen Geldschein in die Hand. »Kaufen Sie ihr ein Kopftuch. Dunkel,
mit roten Blumen. Die mag sie am liebsten.«
    Ich versprach es

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