Mein russisches Abenteuer
das Letzte Testament in die Hand
gedrückt und so seinen liebsten Mitarbeiter verloren. Bevor er auf den Berg
ging, überließ Ruslan einem Freund eine kleine Firma, die er sich neben der
Arbeit aufgebaut hatte. Die Firma verlegte Heizspiralen auf Datscha-Dächern,
und der Freund war inzwischen reich. »Immer, wenn ich in Uljanowsk bin, sagen
meine alten Bekannten: Ruslan, das hättest du sein können.« Er zuckte lächelnd
mit den Schultern. »Ja, hätte ich. Aber was für ein Leben wäre das gewesen?«
Während er sprach, hing Lisa an seinen Lippen. Die Verliebtheit der
beiden war geradezu körperlich spürbar. Wann immer ihre Blicke sich trafen,
hatte ich das Gefühl, von einer plötzlichen Liebesbrandung weit aus ihrem
Gesichtsfeld gespült zu werden. Den Überfluss ihres Glücks schenkten sie der
Gemeinde. »Viereinhalb Tage in der Woche leben wir für andere!«, sagte Ruslan.
Er zählte die verschenkten Stunden an den Fingern ab, ein Rosenkranz der
Selbstaufopferung: »Vorbereitung der Andacht – den halben Sonntag. Baubrigade –
den ganzen Montag und Dienstag. Mittwochs Gemeindeversammlung – wieder ein
halber Tag. Donnerstags …« Am Ende der Aufzählung sah er mir euphorisch in die
Augen. In seiner eckigen Informatikerbrille spiegelte sich winzig klein das
Küchenfenster, und noch kleiner die dahinterliegende Taiga, tausend Kiefern in
zwei Gläsern. »Alle helfen allen. Niemand fordert etwas, niemand hat Schulden,
und alle haben genug zum Leben. Ist das nicht wunderbar?«
Sie zeigten mir ihre Hochzeitsfotos. Die Zeremonie lag ein paar
Jahre zurück, und die beiden Menschen, die da in weiten, weißen Gewändern den
Segen ihres Lehrers entgegennahmen, waren erkennbar Neuankömmlinge in der
Taiga. Besonders Ruslan hatte sich seitdem stark verändert: Aus dem dicklichen
Bräutigam war ein Athlet geworden, mit harten Muskeln an Armen und Brust. Auch
Lisa war erkennbar dünner geworden. Beide aber hatten immer noch die gleichen
wasserblauen Augen, mit denen sie auf den Hochzeitsfotos fast wie Geschwister
aussahen. Unverletzbares Vertrauen sprach aus ihnen, gepaart mit der ständigen
Furcht, andere zu verletzen.
»Das Wichtigste ist, negative Gefühle zu vermeiden«, sagte Ruslan.
»Immer, an jeder Stelle. Wenn es Konflikte gibt, fragen wir den Lehrer, wie wir
uns verhalten sollen. Morgen wirst du seine Antworten hören.«
Nach dem Essen half ich den beiden bei der Gartenarbeit. Die
Saatsaison hatte gerade begonnen, es war die wichtigste Jahreszeit für die
autark lebende Siedlung – die Erträge des kurzen Sommers mussten für den langen
Winter reichen. Es war frühlingshaft warm, und die Arbeit war schweißtreibend.
Danach schickte Ruslan mich unter die Dusche, eine kleine Holzkabine im Garten.
Das eisige Wasser tat gut, aber plötzlich gab eine der feuchten Bodenplanken
unter meinem Fuß nach, krachend brach ich in den schlammigen Untergrund ein.
Als ich Ruslan die Panne beichtete, sah er mir ernst in die Augen.
»Entschuldige bitte, dass es so gekommen ist.«
Ich lachte. »Entschuldige, dass ich eure Dusche ruiniert habe.«
»Die Dusche soll nicht zwischen uns stehen. Ich repariere sie
sofort. Und Lisa kümmert sich um deine Wunde.«
»Nicht nötig.«
»Du blutest.«
»Der Kratzer soll nicht zwischen uns stehen. Ich helfe dir lieber
beim Reparieren.«
Ruslan brauchte fünf Minuten, um die gebrochene Planke zu entfernen
und eine neue einzusetzen. Als symbolischen Beitrag reichte ich ihm Hammer und
Nägel. Als wir uns nach getaner Arbeit in die Augen sahen, fühlte ich mich, als
hätte ich meine erste wissarionitische Lektion gelernt. Nie war ein Konflikt
gründlicher beigelegt worden.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ein Tier schrie in der
Dunkelheit, ich konnte das Geräusch nicht einordnen. Ruslan und Lisa schliefen
fest. Leise trat ich vor die Tür. Im Licht des fast vollen Monds lag die
schlafende Siedlung vor mir. Ihre Kuppeln und Spitzen und Türme sahen aus wie
bizarre Schachfiguren, über die sich grübelnd der Berggipfel beugte.
Welches Spiel wurde hier gespielt? Ich war mir nicht mehr sicher.
Aus der Ferne hatte Wissarions Berg wie die leicht durchschaubare Scheinwelt
eines Scharlatans gewirkt, und seine Jünger wie bedauernswerte Spinner. Aber
Ruslan und Lisa waren nicht dumm, und ihr ehrlicher Enthusiasmus lenkte meine
Gedanken nun in eine ganz andere Richtung. Was Wissarion seinen Anhängern
versprach, war im Grunde nicht weit entfernt von dem, was einst Lenin der
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