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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Welt
versprochen hatte: den Durchbruch in eine neue Ära, die Gründung einer
brüderlichen Gemeinschaft, ohne Fesseln, ohne Ausbeutung, ohne Geld. Mit ihrer
jugendlichen Opferbereitschaft wirkten Ruslan und Lisa wie die Komsomolzen der
kommunistischen Pionierjahre, die im jungfräulichen Sibirien unter klimatischen
Extrembedingungen das Paradies auf Erden bauten. Sie waren die neuen Menschen,
die gegen alle menschliche Erfahrung ihren Traum verwirklichen würden.
    Ich dagegen hatte mich im Gespräch mit Ruslan und Lisa wie ein
hoffnungsloser Zyniker gefühlt, der nicht imstande ist zu glauben, dass
irgendein Weltbeglückungssystem die Dellen dieser Welt ausbeulen kann, kein
Sozialismus und kein Wissarionismus. Ich sah überall nur neue Dellen. Und alte
Muster. Die Kirche des Letzten Testaments würde scheitern, wie die Kirche des
Kommunistischen Manifests gescheitert war, und noch in ihrem Scheitern erkannte
ich ähnliche historische Schritte: Wissarion hatte die Menschheit nicht
bekehrt, aber hier, auf dem Berg, war sein Traum intakt; die Weltrevolution war
ausgeblieben, stattdessen hieß die Losung nun: Sozialismus in einem Land.
    Natürlich gab es Unterschiede, fundamentale, und vielleicht waren
sie wichtiger als die Gemeinsamkeiten. Aber als ich in jener Mondnacht die
Kuppeln und Spitzen und Türme vor mir liegen sah, kam es mir vor, als
wiederhole sich auf diesem Schachbrett eine längst verlorene Partie.
     
    Und aus ihren Mündern ergossen sich viele Fragen. Und die Wahrheit
floss zur Antwort. ( LT 3,10,6)
    Stille kehrte ein. Die Lieder verstummten zuerst, dann das Murmeln,
zuletzt das Rascheln der Kleider. Bewegungslos verharrten die Jünger, die einen
kniend, andere sitzend. Ihr plötzliches Schweigen ließ das Vogelgezwitscher
schrill klingen.
    Einige Minuten lang lag die Lichtung da wie erstarrt. Dann trat von
links eine weiß gekleidete Gestalt aus dem Vorhang der Zirbelkiefern. Sie
näherte sich langsam, einen steingepflasterten Pfad entlangschreitend. Schritt
für Schritt wurde Gottes Sohn sichtbarer, erkennbarer: der schlanke Körper, das
wehende Mädchenhaar, der dunkle Vollbart, das Mona-Lisa-Lächeln. Unter einem
purpurfarbenen Sonnenschirm nahm Wissarion Platz. Mit einer Handgeste eröffnete
er die Audienz.
    Ein junger Mann trat an das Mikrofon in der Mitte der Lichtung.
    »Lehrer, ich möchte dich etwas fragen. Meine Frau und ich, wir … bei
uns sind Intimitäten selten geworden. Immer ist sie müde, oder sie hat
Frauenkrankheiten, oder sie befürchtet, schwanger zu werden …«
    »Was ist deine Frage?«, unterbrach Wissarion. Seine Stimme war ein
säuselnder Singsang.
    Der Mann räusperte sich. »Die Frage ist … ich sehe sie immer weniger
als Frau … mehr wie eine Schwester … es ist …«
    Wissarion unterbrach ihn erneut. »Die Liebe kann viele Formen
annehmen, und eine davon ist die Liebe zwischen Bruder und Schwester.«
    Der Mann setzte wieder an, er rang um Worte. »Es ist aber … wenn ich
will und sie nicht, das löst so eine … körperliche Frustration aus, und ich
weiß nicht … mit welchen Mitteln … wie soll man bloß …«
    »Nicht fluchen«, sagte Wissarion lächelnd. Ein leises Lachen ging
durch die Reihen seiner Zuhörer. »Fordert nichts voneinander. Strebt nicht nach
etwas, das aus der Ferne gut aussieht, aber nicht zu erlangen ist. Ein langer
Weg liegt vor euch. Geht ihn mit Geduld, geht ihn miteinander.«
    Der Mann nickte, dankte, verließ das Mikrofon. Unwillkürlich fragte
ich mich, ob seine Frau im Publikum saß. Aber nachdem ich dem Wechselspiel der
Fragen und Antworten eine Weile zugehört hatte, begriff ich, dass niemand hier
sich scheute, öffentlich über Intimitäten zu sprechen. Jede zweite Frage betraf
eheliche Angelegenheiten: Wie geht man mit kränkenden Bemerkungen um, wie mit
unterschiedlichen Essgewohnheiten, unerwünschten Nachstellungen, unerfüllten
Kinderwünschen? Fast alle anderen Fragen drehten sich um die Haushaltsführung:
Widerspricht es den Gesetzen der Natur, ein Pferd zu kastrieren? Ist
Waschmittel spirituell unbedenklich? Wenn sich die Ziege meines Nachbarn in
meinem Garten erleichtert, gehört der Dung dann dem Nachbarn, oder darf ich
mein Feld damit düngen?
    Wissarion reagierte mitunter knapp, fast brüsk, als wolle er
signalisieren, dass die Frage oft genug beantwortet worden war. Dann wieder
schienen ihm einzelne Fragen zu gefallen, und er antwortete ausführlich, das
Thema ausdehnend und weiträumig umkreisend.
    Nach ein paar

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