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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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Fragen bemerkte ich einen hageren, langhaarigen Mann,
der wenige Schritte entfernt von Wissarion vor einem Aufnahmegerät saß. Ich
hatte ihn auf Fotos gesehen – es war Wadim Redkin, einst Sänger der
Perestroika-Rockband Integral, heute Wissarions Evangelist. Er war es, der
jeden Satz des Lehrers ins stetig wachsende Letzte Testament übertrug. Im Lauf
des vergangenen Tages hatte ich immer wieder fasziniert in dieser Heiligen
Schrift geblättert, der kaum ein menschliches Thema fremd ist. Meine
Lieblingsfrage war die mit den Mücken: Es gibt, hatte ein Mann gefragt,
Menschen, die ständig von Mücken gestochen werden, und andere, die fast nie
gestochen werden – was bedeutet dieser Unterschied? Stechen Mücken lieber
Heilige oder Sünder?
    Versetzt
euch an die Stelle der Mücke. Würde sie sich auf etwas stürzen, dessen Verzehr
sie ekelt? ( LT 6,28,23)
    Gestern hatte ich noch über diese Worte gelacht, heute spürte ich
ihren Trost – ich versetzte mich an die Stelle der Mücke und nahm ihre Stiche
leichter hin. Wissarions Wahrheiten mochten simpel sein, aber ich begriff
langsam das dankbare Lächeln auf den Gesichtern seiner Jünger. Es tut gut,
jemanden zu haben, der simple Fragen ernst nimmt.
    Der Ton wechselte erst bei einer der letzten Fragestellerinnen,
einer jungen Frau in einem weinroten Samtkleid. Ihrem Auftreten fehlte die
betonte Demut ihrer Vorredner, sie sprach nölig, fast anklagend. »Ich wollte
mal was Grundsätzliches zur Architektur bei uns in der Siedlung sagen, Lehrer.
Da ist irgendwie die Luft raus. Früher haben wir ehrgeizige Projekte entworfen,
und jetzt? Hauptsache, man kann irgendwie drin wohnen. Architektur ist ein
Ausdruck des menschlichen Geistes, wir müssen uns auf diesem Gebiet unbedingt
weiterentwickeln, vor allem jetzt, wo die ganze Welt in der kreativen Krise
steckt …«
    Wissarion fiel ihr lächelnd ins Wort. »Deine Beobachtungen sind
richtig. Aber du übersiehst, dass nichts, was mit mir geschieht, aus Zufall
geschieht – alles geschieht unausweichlich. Das kreative Schaffen hat in
unserer Siedlung früher eine stärkere Rolle gespielt, weil es damals so sein
musste. Heute steht anderes im Vordergrund. Ich selbst habe mit dem Malen
aufgehört und werde wahrscheinlich nie wieder damit anfangen, und auch das
geschieht nicht aus Zufall.«
    Der letzte Satz war offenbar eine Neuigkeit – ein Raunen ging durch
die Menge, und die nächste Fragestellerin griff das Thema auf. Sie musste um
die vierzig sein, eine schlanke, hübsche Frau in einem kurzen Sommerkleid. Ihre
Stimme war ein flehendes Flüstern, und ich reimte mir zusammen, was Ruslan und
Lisa später bestätigten: Wissarion gab dieser Jüngerin nicht die Art von Liebe,
nach der sie sich sehnte.
    »Lehrer«, hauchte sie, »mit Sorge habe ich vernommen, dass du nicht
mehr malst. Du sagst, alles geschieht unausweichlich, aber was geschieht mit
uns? Ich sehe mich um und entdecke überall beunruhigende Zeichen. Früher wurden
nur Menschen in die Gemeinde aufgenommen, die bereit sind, große Entbehrungen
auf sich zu nehmen, jetzt reicht es schon, wenn jemand nicht raucht und nicht
trinkt. Die Anforderungen sinken immer weiter, und … und du malst nicht mehr …
ich sorge mich …«
    Ich wurde hellhörig. Sprach hier nur eine zurückgewiesene Liebende,
oder war die Stagnation, die sie beklagte, das absehbare nächste Stadium im
Welken aller Utopien?
    Wissarions Antwort war lang.
    »Tanja«, begann er, zum ersten Mal eine Fragestellerin namentlich
ansprechend. »Jeder von uns sollte sich auf seine Aufgaben konzentrieren. Es
ist nicht deine Aufgabe, dir Sorgen um mich zu machen. Was du da tust, ist sehr
gefährlich.« Das unverändert milde Säuseln seiner Stimme betonte jetzt nur die
Schärfe seiner Vorwürfe. Hatte er denn nicht oft genug betont, dass sein
Programm auf Generationen, auf Jahrhunderte, auf die Ewigkeit ausgerichtet war?
Sah Tanja denn nicht selbst, wie kleinmütig es war, die Ewigkeit an einem
Moment zu messen? Vertraute sie ihm so wenig?
    Tanja machte schüchterne Versuche, sich zu verteidigen, aber
Wissarion ließ sie nicht mehr zu Wort kommen. Als er geendet hatte, wurde es
still. Niemand trat ans Mikrofon. Wissarion wartete ein paar Sekunden, dann
beendete er die Audienz.
    »Gebt acht auf die Sonne«, sagte er zum Schluss, an die ganze
Gemeinde gerichtet. »Die Sonne scheint sehr grell um diese Jahreszeit, sie hat
eine starke Wirkung auf den Menschen. Seid vorsichtig mit ihr.«
    Er stand auf und ging

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