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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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langsam den Weg zurück, den er gekommen war.
Als er sich bis auf wenige Schritte dem Waldrand genähert hatte, blieb er
stehen und drehte sich noch einmal um. Stumm winkten die Jünger, bis ihr Gott
endgültig zwischen den Kiefern verschwunden war.
    Als ich gemeinsam mit Ruslan und Lisa die Lichtung verließ, tippte
mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um. Es war Wadim, der Evangelist.
»Der Lehrer«, sagte er, »ist bereit, deine Fragen zu beantworten.«
     
    Gottes Sohn empfing mich im Arbeitszimmer seines Hauses.
Sein Händedruck war von duldender Sanftheit, sein Lächeln undurchdringlich und
umarmend zugleich. Wadim und ich setzten uns, und in schweigender Erwartung
erwiderte Wissarion meinen Blick.
    »Vielleicht möchten Sie zuerst etwas über mich erfahren?«, fragte
ich.
    Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht nötig.« Milde
Nachsicht klang aus seinen Worten. Ich konnte ihm nichts erzählen, was er nicht
längst wusste.
    Auch meine Fragen beantwortete er, als habe er sie vorausgeahnt, als
habe er sie mir selbst in den Mund gelegt, um mir Antworten geben zu können,
die seit Langem auf mich warteten. Nein, natürlich war es kein Zufall, dass
sich Jesu Wiederkehr in Russland ereignet hatte, nichts geschah zufällig. Russland
war lange auf die Wiederkehr vorbereitet worden. Die Bolschewiken hatten die
Grundlagen aller Religionen zerschlagen, und so war eine Gesellschaft
entstanden, die sich in geistiger Freiheit mit Gott auseinandersetzen, die
unbelastet zu ihm zurückfinden konnte. Und ja, natürlich hatte es in Sibirien
geschehen müssen, an einem Ort, der noch weitgehend unberührt war vom
selbstzerstörerischen Wirken der Menschheit.
    Er sprach langsam, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, auf den
Lippen ein niemals versiegendes Lächeln. Er sah in meine Richtung, aber ich bot
seinem Blick keinen Halt, seine halb geschlossenen Augen flirteten mit der
Unendlichkeit hinter meinem Rücken. Ich ertappte mich dabei, wie ich in seinen
Worten und Gesten nach irgendeiner Spur des Mannes suchte, der er einmal
gewesen war, nach dem Auftragsmaler und Verkehrspolizisten Sergej Torop. Es war
ein naheliegender Gedanke, aber als er mir bewusst wurde, kam ich mir kleinlich
vor – instinktiv wartete ich auf die Selbstentlarvung eines Hochstaplers.
Umsonst. Nichts sprach dafür, dass dieser Mann nicht an sich selbst glaubte.
    Inzwischen waren wir tief in die Verästelungen der wissarionitischen
Lehre eingedrungen. Sie schien, wie so viele christliche Erneuerungsbewegungen
vor ihr, mit einem alten Dilemma zu ringen: Wenn Gott allmächtig ist und gut,
warum verhindert er dann das Böse nicht? Wissarion löste den Widerspruch durch
Aufgabenteilung: Es gab zwei Götter, einen alten und einen neuen. Der Gott des
Alten Testaments hatte die Welt erschaffen, aber seine Schöpfung war ihm
gleichgültig, das Schicksal der Menschen berührte ihn nicht. Er hatte der Welt
nur den Glauben geben können, Hoffnung und Liebe waren ihm fremd. Erst ein
anderer, jüngerer Gott, der Gott des Neuen Testaments, hatte der Menschheit als
Hoffnungsschimmer seinen Sohn gesandt, den er nun mit der Liebesbotschaft des
Letzten Testaments zurückkehren ließ.
    »Damals«, sagte Wissarion, mit einer vagen Handbewegung die
zweitausend Jahre überbrückend, die zwischen seiner ersten und zweiten Erscheinung
auf Erden lagen, »damals war es mir noch nicht gegeben, den Menschen die
Gesetze ihrer seelischen Entwicklung aufzuzeigen. Vieles konnte ich nicht
sagen, nicht alles konnte aufgezeichnet werden, die Umstände ließen es nicht
zu.« Nur in Parabeln hatte Gottes Wort damals überliefert werden können. Jetzt
aber gab Christus für jede Situation des Lebens konkrete Handlungsanweisungen.
Nur wer sich an sie hielt, konnte die Selbstzerstörung überwinden, die dem
Menschen eingeimpft war.
    Als eine dritte, halb heidnische Gottheit thronte Mutter Erde im
wissarionitischen Pantheon: die Natur, die personifizierte Schöpfung. Zwischen
ihr und den Menschen herrschte Zwietracht, geschürt von außerirdischen Mächten,
die die Welt in die Vernichtung treiben wollten. Ihr effektivstes Werkzeug war
das Geld. Um es unter den Menschen zu verteilen, vertrauten sie es dem
auserwählten Volk des Alten Testaments an: den Juden, die machtlos waren, aus
ihrer zerstörerischen Rolle auszubrechen, weil ihr gleichgültiger Gott sie
nicht aufhielt.
    Neben den bösen Außerirdischen gab es auch noch gute Außerirdische,
aber ungefähr an dieser Stelle

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